David Cranz: Geschichte der evangelischen Brüdergemeinen in Schlesien, insonderheit der Gemeinde zu Gnadenfrei
David Cranz: Geschichte der evangelischen Brüdergemeinen in Schlesien, insonderheit der Gemeinde zu Gnadenfrei. Eine historisch-kritische Edition, hg. von Dietrich Meyer, Neuere Forschungen zur schlesischen Geschichte 29, Köln/Wien: Böhlau, 2021, geb., 422 S., € 70,–, ISBN 978-3-412-52261-2
Die vorliegende Veröffentlichung ist nach Inhalt, Darstellungsweise und Gestalt von herausragender Qualität. Das gilt sowohl im Hinblick auf die „Geschichte der evangelischen Brüdergemeinen in Schlesien“ von David Cranz selbst als auch für die Einleitung von Dietrich Meyer wie auch für dessen editorische Aufarbeitung. Dem Verlag gebührt Dank, einem inhaltlich herausragenden Werk die ihm gebührende äußere Gestalt gegeben zu haben. Ich hätte mir lediglich zusätzlich eine Karte Schlesiens gewünscht, um besser die Lage der behandelten Brüdergemeinen vor Augen zu haben. (Dass auch ein Verzeichnis der im Buch enthaltenen Abbildungen fehlt, sei nur am Rande angemerkt.) Dabei bin ich mir bewusst, dass aufgrund der grassierenden Geschichtsvergessenheit ein Buch über die Kirchengeschichte Schlesiens, noch dazu mit dem Fokus auf die Geschichte der dortigen Herrnhuter Brüdergemeinen mit keinem großen Kreis von Leserinnen und Lesern rechnen kann – im Gegenteil. Umso größer das Verdienst des Herausgebers, diesen wichtigen Teil der Geschichte der deutschen evangelischen Kirche und der Erneuerten Brüder-Unität der Vergessenheit entrissen zu haben. Die schlesischen Brüdergemeinen bildeten zahlenmäßig und von ihrer Finanzkraft her bis zum Zweiten Weltkrieg das Rückgrat der Herrnhuter Brüdergemeine in Deutschland. So hatten sie in finanzieller Hinsicht wesentlichen Anteil daran, dass die Brüder-Unität ihre weltweite Missionsarbeit, etwa auch in Deutsch-Ostafrika, durchführen konnte. Im heutigen Tansania befinden sich mittlerweile die zahlenmäßig weltweit stärksten Unitätsprovinzen – ähnlich wie die lutherische Kirche Tansanias dicht davor steht, die größte lutherische Kirche der Welt zu werden.
Das zu besprechende Buch gliedert sich in zwei Hauptteile: Eine ausführliche Einleitung des Herausgebers und die Edition der Geschichte der evangelischen Brüdergemeinen in Schlesien, die David Cranz von 1773 bis 1775 verfasst hat. Dabei enthält die Einleitung neben einem instruktiven Forschungsüberblick vor allem eine Darstellung von Leben und Werk des außerhalb der Brüdergemeine heute weithin unbekannten Cranz. „Angaben zur Quelle“, d. h. zum Buch von Cranz, schließen die Einleitung ab. Man merkt den editorischen Notizen Meyers an, dass er in das Buch sehr viel Arbeit investiert hat. Er erweist sich darin nicht nur als Kenner der brüderischen, sondern der schlesischen Kirchengeschichte insgesamt. Die Fußnoten zum Text bieten viele hilfreiche Entschlüsselungen von Personen und Orten, die sonst unbekannt blieben. Dazu kommt ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis, das zur Weiterarbeit einlädt. Abgerundet wird die Edition schließlich durch ein äußerst hilfreiches Personen- und Ortsverzeichnis. Es bewährt sich etwa, wenn man wissen möchte, an welchen Stellen in der Darstellung von Cranz überall eine bestimmte schlesische Brüdergemeine näher thematisiert wird. Hervorzuheben ist außerdem, dass die deutschen Namen zwar die Grundlage des Registers bilden, aber jeweils die polnischen (bzw. anderen) Namen in Klammern hinzugesetzt sind, und im Verzeichnis zusätzlich die polnischen Namen aufgeführt werden und von dort umgekehrt auf die Fundorte der deutschen Namen verwiesen wird.
Meyer arbeitet in seiner editorischen Einleitung zur Person von Cranz und zu seiner Konzeption von Geschichtsschreibung heraus, worum es ihm nicht anders als der Herrnhuter Brüdergemeine insgesamt im 18. Jh. in Schlesien gegangen ist: Menschen zum Glauben an Jesus Christus als den Heiland der Sünder einzuladen, dass wenigstens einige an allen Orten der Welt errettet werden. Dazu war Cranz bereit, jede Strapaze auf sich zu nehmen. Bemerkenswert ist bei dem studierten Theologen, der sein Studium in Halle an der Saale abgebrochen hatte, um es an der im Aufbau befindlichen Brüdergemein-Universität in der hessischen Wetterau fortzusetzen, das Verhältnis von schwacher Gesundheit und ungeheurer literarischer Produktivität (er hat neben der Geschichte der schlesischen Brüdergemeinen auch eine damals weit bekannt gewordene über die Missionsarbeit der Brüder-Unität in Grönland verfasst). Die Erklärung könnte darin bestehen, dass er sich beim Schreiben schonen konnte – was körperliche und seelische Strapazen betraf. Außerdem ist deutlich, dass sein Herz weniger im Rahmen der Gemeindearbeit als bei der literarischen Produktion schlug. Eine wichtige Qualität der Einleitung von Meyer besteht darin, dass er sich darum bemüht, den Autor selbst sprechen zu lassen, seine Intensionen ernst zu nehmen und vor allem die besondere Form von – ich nenne sie einmal – geistlicher Geschichtsschreibung nicht von vornherein abzulehnen. Dadurch gelingt es dem Editor, deren Qualität vorurteilsfrei wahrzunehmen und herauszuarbeiten. Das heißt keineswegs, dass Meyer nicht auch Kritik an Cranz üben und Schwächen seiner Darstellung thematisieren könnte. Der Editor zeigt, dass für das Werk von Cranz neben der besonderen Form brüderischer Geschichtsvorstellung seine umfassende Bildung und Beobachtungsgabe prägend waren. Nicht zuletzt befand Cranz sich mit seinem für ihn charakteristischen „geschichtlichen Realismus“ auf der Höhe der Anforderungen, die zu seiner Zeit an die Geschichtsschreibung gestellt wurden.
Die „Geschichte der evangelischen Brüdergemeinen in Schlesien“ von Cranz selbst umfasst zwei, unterschiedlich ausführliche Teile. Der erste Teil enthält in vier Artikeln eine kurzgefasste Geschichte des Protestantismus und der mit ihm verbundenen Erweckungen in Schlesien bis zur Gründung der ersten Brüdergemeine in den 1740er Jahren. Bekanntermaßen war Schlesien durch die Reformation zum großen Teil evangelisch geworden. Obwohl das Land zu Habsburg gehörte, hatten sie nicht vermocht, es durch die Gegenreformation zurück zur römisch-katholischen Kirche zu führen. Das war letztlich durch das mehrfache Eingreifen des protestantischen Schweden verhindert worden. Aber erst durch die Eroberung Schlesiens durch Friedrich d.Gr. Anfang der 1740er Jahre war die Gefahr der Gegenreformation endgültig gebannt. Im zweiten Teil wird in insgesamt fünf Abschnitten die Geschichte der Brüdergemeinen von ihrer Gründung 1743 bis 1775 dokumentiert. Dabei sind besonders die Verhandlungen und Konfessionen aufschlussreich, die die Brüdergemeine bzw. Zinzendorf mit dem preußischen König im Zusammenhang mit der Ansiedlung der Brüder führten. Zwar wurde die Brüdergemeine als „Augsburgische Konfessionsverwandte“ anerkannt, bildete aber in Preußen – anders als in Sachsen – eine staatlich anerkannte Freikirche. Das war damals in Deutschland insgesamt ein absolutes Novum, aber passend zur Toleranzpolitik Friedrichs. Das Buch insgesamt zeigt nicht zuletzt, dass es neben Zinzendorf und seinem Nachfolger Spangenberg als den leitenden Personen in der Brüdergemeine – und gerade darin machte sie ihrem Namen alle Ehre – eine Fülle weiterer hochbegabter und an die Sache hingegebener, dienstbereiter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gab. Ohne sie wäre das weltweite Wirken der Brüdergemeine nicht denkbar gewesen. Cranz’ Lebenslauf offenbart überdies, dass in der Brüder-Unität keineswegs ein nicht hinterfragbarer autoritärer Führungsstil den Ton angab. Einwände der Betroffenen gegenüber einer neuen Aufgabe wurden gehört und besondere Begabungen berücksichtigt. Außerdem stellte die Befragung des Loses vor jeder endgültigen Entscheidung als Stimme des auferstandenen Jesus Christus die unüberschreitbare Grenze jeder menschlichen Autoritätsausübung in der Brüdergemeine dar.
Dr. Peter Zimmerling, Professor für Praktische Theologie am Institut für Praktische Theologie der Theologischen Fakultät, Universität Leipzig