Historische Theologie

Werner Klän (Hg.): Der Theologe Hermann Sasse (1895–1976)

Werner Klän (Hg.): Der Theologe Hermann Sasse (1895–1976). Einblicke in seine internationale Wirkung als Exeget, Kirchenhistoriker, Systematiker und Ökumeniker, OUH.E 24, Göttingen: Edition Ruprecht, 2020, geb., 278 S., € 56,–, ISBN 978-3-8469-0352-0


Im November 1936 predigt Hermann Sasse in Erlangen am 1. Adventssonntag: „Die Frage der Heiligen Schrift ist heute die umstrittenste, die brennendste Weltanschauungsfrage in Deutschland […] Denn entweder war die Annahme, die Bibel sei Gottes Wort, falsch. Dann bedeutet die Zerstörung ihrer Autorität eine große Befreiung […] Oder die Bibel ist Gottes Wort. Dann bedeutet ihre Zerstörung und Verwerfung die Verwerfung Gottes. Dann ist das, was heute auf den Gassen und Märkten verkündet wird, über das Alte Testament und den Gott des Alten Testamentes, Gotteslästerung und muss die Folge haben, die alle Gotteslästerung hat […] Das ist der tödliche Ernst der Bibelfrage in der Gegenwart unseres Volkes“ (Zeugnisse. Erlanger Predigten und Vorträge vor Gemeinden 1933–1944, hg. von Friedrich Wilhelm Hopf, Erlangen 1979, 27). Der Prediger, der hier in freimütiger Konfrontation kein Blatt vor den Mund nimmt, ist der aus der Altpreußischen Union kommende Lutheraner Hermann Sasse. In konservativen pietistischen und freikirchlichen Kreisen dürfte er – wenn überhaupt – vor allem durch seine Veröffentlichungen zur Schriftlehre bekannt sein. In seinen Veröffentlichungen – vorwiegend Kleinschriften und Aufsätzen – geht er den Problemen nach, die auch die sogenannten Evangelikalen beschäftigen: Inspiration, Verbalinspiration und Irrtumslosigkeit, Evolutionstheorie, Bibelkritik und die Bibel als Wort Gottes. Teile seines begonnenen Hauptwerkes zur Schriftlehre und weitere Schriften sind in der Sammlung Sacra Scriptura: Studien zur Lehre von der Heiligen Schrift, Hg. von F. W. Hopf, Erlangen 1981 (dazu Friedrich Beißer in ThR 52, 1987, 323–325) zusammengefasst. Der Herausgeber dieser Sammlung hat Sasses Grundgedanken auf 50 Seiten im Abriss dargestellt: F. W. Hopf: „Hermann Sasse und sein Ringen um die Lehre von der Heiligen Schrift“ (LuthBl 32 Nr 119, 1980, 1–51). Sasses Auseinandersetzung mit der Bibelfrage hat eine weit größere Bedeutung als den Kontext der lutherischen Kirchen, in der sie entstanden ist. In seinen Darlegungen wird dem Leser fortlaufend ein „tua res agitur“ deutlich: Die gleichen Themen werden in vielen anderen Kirchen und an theologischen Ausbildungsstätten anderer Konfessionen diskutiert.

Werner Klän hat als emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Lutherischen Theologischen Hochschule Oberursel den vorliegenden Jubiläums- und Gedächtnisband zum 125. Geburtstag von Hermann Sasse im Jahr 2020 herausgegeben. Die gesammelten Beiträge sollen die Rezeptionsgeschichte von Sasses Werk darstellen (7), wobei sie nur einen Zwischenstand markieren können (vgl. 7, 9), denn „Das theologische und kirchliche Erbe Hermann Sasses bedarf noch einer gründlicheren Aufarbeitung, einer kritischen Würdigung, nicht zuletzt aber […] einer weiteren Verbreitung“ (9).

Im ersten, umfangreichen Beitrag des Aufsatzbandes „Hermann Sasse als Neutestamentler“ (11–49) kommt Volker Stolle zu dem Ergebnis, dass Sasse von der Exegese der Religionsgeschichtlichen Schule herkommt, deren Probleme er allerdings mit seiner Hinwendung zum Bekenntnis nicht grundsätzlich überwunden hat. Simon Volkmar belegt in „Volles Gotteswort und volles Menschenwort. Hermanns Sasses Beitrag zu einem lutherischen Verständnis der Heiligen Schrift“ (50–71), dass Sasses Schriftlehre Christus ins Zentrum stellt und in Analogie zur Zwei-Naturen-Lehre einen Weg jenseits von altprotestantischer Orthodoxie und rational begründeter historischer Forschung sucht. In den folgenden Beiträgen beschäftigen sich die Autoren mit Sasses Verständnis des Bekenntnisses (Thomas M. Winger: „Sasse as Interpreter of the Lutheran Confessions“, 72–88) und stärker kirchengeschichtlich orientierte Fragestellungen wie seine kritische Deutung der politischen Vorgänge seiner Zeit (Christian Neddens: „Theologische Gegenwartsdeutung in ,Weimarer Republik‘ und ,Drittem Reich‘“, 89–102; Wolfgang Sommer: „Hermann Sasse im Kirchenkampf des ‚Dritten Reichs‘“, 103–115) sowie der Berufung an die Theologische Fakultät der Universität Erlangen (Volker Stolle: „Kirchenpolitische Erwägungen anlässlich der Berufung Hermann Sasses nach Erlangen“, 116–120). Die beiden Aufsätze von Maurice Schild („Truth and Tyranny. Hermann Sasse’s 1936 Missive to Ludwig Fürbringer“, 121–132) und John R. Stephenson („Hermann Sasse’s Influence on Confessional Lutheranism in North America since 1945“, 133–146) beleuchten Aspekte von Sasses Zeitgenossenschaft in der Deutung totalitaristischer Tendenzen im Nazi-Deutschland vor den Olympischen Spielen 1936 und in der Kritik sowohl fundamentalistischer Ansichten von Inspiration und Unfehlbarkeit als auch in Deutschland gepflegter liberaler „Entmythologisierung“ der Heiligen Schrift.

Weitere vier Beiträge beschäftigen sich mit ekklesiologischen Fragen, mit dem Amtsverständnis und der Abendmahlslehre aus ekklesiologischer Sicht. Der Präses der lutherischen Missouri-Synode Matthew C. Harrison zeigt auf, wie sich Sasses Amtsverständnis aus der apostolischen Sendung als göttlicher Stiftung ergibt (147–165). Jacob Corzine vergleicht die Lehre von der Kirche bei Sasse mit dem Dokument Communion in Growth, das 2017 als Ergebnis des Finnisch-Lutherischen Dialogs mit der Römisch-Katholischen Kirchen entstand (166–187). Werner Klän zeigt in seinem Papier „Kirche, kirchliches Dienstamt und Ökumene. Erwägungen im Anschluss an Hermann Sasse“ (188–212), dass die konfessionelle Position bei Sasse mit dem Wissen um die größere eine, heilige, katholische und apostolische Kirche verbunden war. Deshalb hat er sich auch im ökumenischen Dialog engagiert: Bekenntnisbindung und Ökumenizität gehören zusammen. Schließlich erklärt John T. Pless in „Sasse on the Sacrament of the Altar. Where Ecclesiology and Eschatology meet“ (213–229), wie die Kirche aus der Feier des Abendmahls, in dem Christus real gegenwärtig ist, lebt.

Der abschließende Beitrag des Bandes „Biographische Annäherungen an Hermann Sasse (1895–1976)“ von Andrea Grünhagen könnte besser am Anfang der Sammlung stehen. Hier finden sich wichtige Aussagen wie die folgende: „Was meiner Generation […] es möglich gemacht hat, ins Pfarramt zu gehen, nachdem wir die Religionsphilososphie, die wir in unserem Studium statt einer wirklichen Theologie gelernt hatten, auf den Schlachtfeldern Flandern hatten begraben müssen, war doch die Überzeugung, daß wir nicht unsere Religion zu verkünden hätten, sondern das schlichte Wort der Bibel, auf das uns zu verlassen, an das zu glauben wir gelernt hatten.“ (S. 233, aus Sacra Scriptura 204). Im Anhang des Buchs (247–278) sind Autoren- und Literaturverzeichnis (Werkverzeichnis sowie Sekundärliteratur zu Sasse) sowie vorzügliche Register beigegeben. So wird der Überblick über das vielfältige Wirken und die Spuren, die Sasse auf drei Kontinenten hinterlassen hat, abgerundet. Wer sich weiter mit Sasses Theologie beschäftigen will, sollte seine antiquarisch (Bd. 1 und 2) sowie neu (Bd. 3) erhältlichen Gesammelten Aufsätzen erwerben: In Statu Confessionis: Gesammelte Aufsätze und Kleine Schriften, hg. v. Friedrich Wilhelm Hopf, zwei Bände, Berlin u. a. 1975/ 1976; In statu confessionis III: Texte zu Union, Bekenntnis, Kirchenkampf und Ökumene, hg. v. Werner Klän u. a., OUH.E 10, Göttingen 2011.


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Steinen