Stefan Michels: Testes veritatis
Stefan Michels: Testes veritatis. Studien zur transformativen Entwicklung des Wahrheitszeugenkonzeptes in der Wittenberger Reformation, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 129, Tübingen: Mohr Siebeck, 2022, Leinen, XI+561 S., € 139,–, ISBN 978-3-16-161540-5
Martin Luther und die Wittenberger Reformatoren hatten schon in den ersten Jahren der reformatorischen Bewegung gegen den Vorwurf zu kämpfen, Neues zu lehren. Eine Antwort auf diesen Vorwurf war es, unter den Theologen vorausgehender Jahrhunderte sog. Wahrheitszeugen zu suchen und sich in deren Sukzession zu verstehen. Stefan Michels, seit Oktober 2022 Professor für Kirchengeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Frankfurt a. M., legt mit der hier zu besprechenden Studie die überarbeitete Fassung seiner 2020 an der Philipps-Universität Marburg eingereichten und von Wolf-Friedrich Schäufele betreuten Dissertation vor. Michels untersucht die Entwicklung des Konzepts von Wahrheitszeugen (testes veritatis) in der Wittenberger Reformation und verortet seine Untersuchung in den Transformationsprozessen vom Spätmittelalter zur Reformation und damit im aktuellen Diskurs der Reformationsforschung: „Die Wittenberger Theologie lässt sich als Transformation des Überkommenen lesen […], als Neufindung ganzer historiographischer Diskurse“ (3). Michels identifiziert zu Recht den Wahrheitszeugendiskurs als eine „der wohl bedeutendsten und einflussreichsten Meistererzählungen der Reformationszeit“ (3), die sich in vollendeter Form im 16. Jahrhundert in Matthias Flacius Illyricus’ Catalogus testium veritatis findet. Für Flacius waren Wahrheitszeugen „alle jene Vertreter evangelischer Wahrheit, die bereits vor Luthers Auftreten gegen den römischen Antichrist zu Felde gezogen waren“ (3). Michels These ist, dass „dieser Diskurs nicht aus sich selbst herausgewachsen ist, sondern wiederum das Ergebnis langfristig laufender Transformationen in der Wittenberger Historiographie wie Ekklesiologie im Kontext der sie umgebenden Ereignisgeschichte war“ (3). Diese Entwicklung in der ersten und zweiten Generation der Wittenberger Reformatoren zeichnet Michels in der rund 500 Seiten starken Arbeit detailliert nach.
Prolog und Epilog rahmen die sechs Kapitel der Studie, die den Bogen vom Wittenberger Augustinismus als Ausgangspunkt bis zu Matthias Flacius’ Catalogus spannt. Im Prolog (1–11) sichtet der Verf. kritisch ausgewählte Studien zum Konzept der Wahrheitszeugen und benennt knapp sein Vorgehen. Leitend ist für ihn der Transformationsbegriff, der die „Dynamik historischen Geschehens ernst nimmt und versucht, ihm durch ein angemessenes Forschungsparadigma gerecht zu werden“ (10), und zu dem der Verf. bereits einen Sammelband veröffentlicht hat (mit V. Leppin, Reformation als Transformation?, 2022). Mit dem Begriff der Transformation steht gegenüber der Vorstellung eines Bruchs der Gedanke der Kontinuität und Modifizierung im Zentrum, und unter diesem Leitgedanken stellt der Verfasser die Formierung und Entwicklung des Wahrheitszeugenkonzepts vor.
Anfänge des Konzepts sieht Michels in der intensiven Augustinus-Rezeption in Wittenberg (Kap. 1; 13–31) und im Wirken Martin Luthers, der 1516 und 1518 die spätmittelalterliche Schrift Theologia Deutsch herausgab als „Beginn einer konsequenten theologischen Selbsthistorisierung der reformatorischen Bewegung mit dem Ziel der Herausstreichung der eigenen Legitimität als wahre Kirche Christi“ (29f). Luther entdeckt anschließend die Texte von Jan Hus, findet sich damit in der Geschichte der Kirche wieder und – das stellt Michels stark heraus – knüpft in seiner Ekklesiologie an Jan Hus und dessen Lehre vom Papsttum als Antichrist („Antichristologie“) an (Kap. 2; 33–171). Luther eignet sich in einem mehrstufigen Prozess zwischen Ende 1518 und Mitte 1520 Jan Hus als Vorläufer-Figur an. Er kritisiert die zeitgenössische Ekklesiologie, indem er sich auf Hus beruft, der sich für ihn „vom Vorläufer zur prophetischen Gestalt“ (140) wandelt. Das führt, so Michels, zu „Transformationen in der Ekklesiologie Luthers“ (141), zu einer ekklesiologischen Fokussierung und eschatologisch-historiographischen Strukturierung (140f). In diesem zweiten, mit rund 140 Seiten umfangreichsten Kapitel der Arbeit erschließt Michels detailliert die Grundlagen des Wahrheitszeugendiskurses bei Luther, um von hier aus in den Kapiteln 4 bis 6 dessen Weiterentwicklung in den Blick zu nehmen.
So untersucht er in Kapitel 3 (173–205) die Herausgabe von Schriften von Vorläufern, wie z. B. Jan Hus, Savonarola oder John Wycliff, durch die Wittenberger Reformatoren in den 1520er Jahren. Im ebenfalls umfangreichen 4. Kapitel (207–348) zeigt er die „Transformation eines Konzeptes reformatorischer Selbsthistorisierung“ (348) bei Philipp Melanchthon, der ein „Schlüsselkonzept von Kirchen-Geschichte“ (211) entwickelte und damit die reformatorische Geschichtsschreibung formte. Die beiden letzten Kapitel sind der Fortführung des Wahrheitszeugenkonzepts bei den Melanchthon-Schülern Georg Major und Matthias Flacius Illyricus gewidmet. Ersterer (Kap. 5; 349–388) führt Melanchthons Vorstellung von Zeugen der reinen Lehre, die es durch alle Zeiten gab, fort – „eine weitere Transformationsstufe aufgrund einer sich intensivierenden Berücksichtigung des theologischen Mittelalters“ (388). Der Catalogus testium veritatis (1556) von Flacius (Kap. 6; 389–482) bildet schließlich „Schluss- und zugleich den Höhepunkt des Wahrheitszeugendiskurses in der Reformationszeit“ (480) und ist das „Ergebnis eines längeren Transformationsprozesses innerhalb der Wittenberger Theologie“ (480). Flacius verwendet als erster „die Wendung ‚testes veritatis‘ in programmatischer Hinsicht“ (450) und Michels analysiert den Catalogus exemplarisch in der Perspektive von Ekklesiologie und Antichrist-Lehre. Im Epilog (483–488) fasst Michels die Ergebnisse seiner Studie in 12 Punkten zusammen und ordnet die Studie in eine, u. a. von Heiko A. Oberman geprägte, „prozesshermeneutisch orientierte Forschung“ (487) ein. Die Bibliographie (489–547) ist einschlägig; Bibelstellen-, Namen- und Ortsregister (549–561) bilden den Abschluss der Arbeit. Die Grundthese von Michels, die allmähliche Entwicklung des Wahrheitszeugen-Konzepts, ist überzeugend. Dass er dabei den Wahrheitszeugendiskurs in dreifacher Perspektive verfolgt, in seinem zeitgenössischen Entstehungs- und Bedingungskontext, als historiographisches Konzept sowie dezidiert als ekklesiologisches Konzept der Wittenberger Reformatoren, macht die Arbeit zugleich komplex wie verdienstvoll, arbeitet er doch durch die Kontextanalyse auch die Geschichte der lutherischen Reformation zwischen ca. 1516 und 1560 auf. Die Studie ist dabei nicht einfach umfangreich, sondern dicht und gehaltvoll. Das schließt kleine Desiderate formaler und inhaltlicher Art nicht aus: Vereinzelt finden sich Stileigentümlichkeiten („Entbergung“, 33), einige Schreibfehler wurden übersehen und eine stärkere Gliederung der umfangreichen Kapitel wäre möglich gewesen. Inhaltlich wäre an einzelnen Stellen zu diskutieren, ob diese Transformationen den Reformatoren bewusst und intendiert waren, ob sich z. B. Martin Luther „im Rahmen seines Ketzerprozesses auch inhaltlich neu erfinden musste“ (24)? Diese Kritik ändert nichts am Verdienst der Studie: Sie greift eine relevante, bisher nicht näher erforschte theologiegeschichtliche Fragestellung auf und verbindet Historiographie und Theologie der Wittenberger Reformation in einer positionsstarken und forschungsgesättigten Darstellung, der viele Leser (mit reformationsgeschichtlichen Vorkenntnissen) zu wünschen sind.
Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen