Benjamin Stahl: Veränderungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Pfarramts im ländlich-peripheren Ostdeutschland
Benjamin Stahl: Veränderungen und Entwicklungsmöglichkeiten des Pfarramts im ländlich-peripheren Ostdeutschland, Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung 32, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022, geb., 459 S., € 130,–, ISBN 978-3-525-50190-0
Benjamin Stahl, Pfarrer der ev.-luth. Landeskirche Sachsens in Großhartau, zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter am IEEG in Greifswald, legt mit diesem Buch die überarbeitete Fassung seiner Dissertation vor. Darin untersucht er Situation und Zukunftsperspektiven des Pfarramts in ländlichen Regionen Ostdeutschlands.
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Teil I behandelt das „Pfarramt im Kontext der ostdeutschen, ländlichen Räume“ (17). St. verortet zunächst seinen eigenen Ansatz, entsprechend dem Untersuchungsgegenstand, in der Pastoraltheologie, allerdings mit der ausdrücklichen Einordnung in den größeren Rahmen der Kirchentheorie, weil die tiefgreifenden Umbrüche in den Landeskirchen nach St. eine exklusive Konzentration auf das Pfarramt unmöglich machen. In Auseinandersetzung mit gängigen pastoraltheologischen und kirchentheoretischen Ansätzen erarbeitet er eine pastoraltheologische Raute, die nicht nur auf Handlungsträger und Handlungsfelder, sowie theologische Grundlagen und Kontext des Pfarramts reflektiert, sondern diese explizit in einem gesamtkirchlichen Rahmen betrachtet.
Im weiteren Verlauf von Teil I stellt St. ausführlich den Kontext des Pfarramts in ländlich-peripheren Regionen Ostdeutschlands dar. Dabei arbeitet er zunächst die bisherigen pastoraltheologischen Entwürfe E. Winklers, M. Alex´ und K. Menzels auf, außerdem religionssoziologische Studien. Anschließend stellt er allgemeine soziologische Forschungsergebnisse zu ländlichen Räumen in Ostdeutschland sowie zu Schrumpfungs- und Peripherisierungsprozessen dar, die zur Abkopplung bestimmter Regionen führen können. St. arbeitet dabei heraus, dass die gängige Fokussierung auf das Pfarramt in von besonders starker Schrumpfung und besonders ausgeprägter Konfessionslosigkeit bzw. religiöser Indifferenz geprägten ländlichen Regionen Ostdeutschland zu dysfunktionalen Strukturen geführt hat, sowohl finanziell als auch bzgl. der Zukunftserwartungen in den Gemeinden. Zugleich macht St. auch hoffnungsvolles Potential in den Gemeinden aus. Die Herausforderung für die Landeskirchen besteht St. zufolge darin, im Rahmen der unvermeidbaren Schrumpfungsprozesse Wege zu finden, die den Gemeinden eine Zukunftsperspektive eröffnen und Gestaltungsspielräume ermöglichen.
Teil II widmet sich den ekklesiologischen Grundlagen des Problemfeldes. St. fordert, die Ortsgemeinde und die dort Engagierten neu als Kern der Kirche zu schätzen. Das Predigtamt soll nicht mehr exklusiv an das Pfarramt gebunden werden, sondern neu als Teil des allgemeinen Priestertums verstanden werden. Dadurch können Menschen außerhalb des Pfarramts gleichwertig einbezogen und in Verantwortung gestellt werden. Ebenso soll Kirche als plurale Gemeinschaft unterschiedlichster kirchlicher Gemeinschaften verstanden werden, die alle vollwertig als Kirche anerkannt sind, sich aber ihrerseits als Teile der Kirche verstehen.
In Teil III adaptiert St. die bisherigen Ergebnisse auf Handlungsträger und -felder. Er plädiert für multiprofessionelle Teams, in denen Haupt-, Neben- und Ehrenamtliche gleichermaßen ordiniert und berechtigt werden, unabhängig von ihren Anstellungsverhältnissen. Bisher exklusiv ans Pfarramt gebundene Aufgaben können auch von entsprechend geschulten Gemeindegliedern übernommen werden, inklusive Predigt und Sakramentsverwaltung. Wichtig ist es weiter, dass in den Kirchen die plurale Gestalt kirchlicher Gemeinschaften gefördert wird. Dem Pfarramt kommt dabei die Hauptfunktion zu, bei den anderen Teammitgliedern die theologisch-hermeneutischen Kompetenzen zu fördern. Die Arbeit von St. ist ein großer Gewinn für die Praktische Theologie. Sie zeigt nicht nur auf, dass die bisherigen Lösungsansätze der empirischen Situation nicht gerecht werden, sondern eröffnet auch alternative Handlungsspielräume. Ein tatsächlicher Paradigmenwechsel in Theologie und Kirche ist notwendig – und der Mut, ihn umzusetzen.
Benjamin Hummel, Studienassistent am Albrecht-Bengel-Haus Tübingen