Praktische Theologie

Gerhard Wegner: Substanzielles Christentum

Gerhard Wegner: Substanzielles Christentum. Soziotheologische Erkundungen, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2022, Pb., 376 S., € 38,–, ISBN 978-3-374-07014-5


Corona habe die soziale Nutzlosigkeit des von Kircheninstitutionen in Deutschland vertretenen christlichen Glaubens bestätigt und die Pandemie markiere nun auch im Westen Deutschlands das Aus der unangefochtenen gesellschaftlichen Stellung etablierter Kirchen, so Gerhard Wegner, ehemaliger Direktor des Sozialwissenschaftlichen Institutes der EKD, Publizist und apl. Professor für Praktische Theologie an der Universität Marburg in seinem neuesten Buch Substanzielles Christentum. Zunehmend fänden sich Kirchen in einer Diasporasituation wieder, die sie zwinge, in der Weitergabe des christlichen Glaubens diesen den Menschen als tragfähiges Lebensmuster zu plausibilisieren. Angesichts dieser kirchlichen Großwetterlage stellt sich die Frage, was christlicher Glaube unter diesen Gegebenheiten seinem Wesen nach sein kann. In sechs Beiträgen sucht der Autor im Gespräch mit der Soziologie nach Antworten.

Die Einleitung ist grundlegend und hat Vorzeichencharakter. Sie beginnt mit einer Analyse der Probleme kirchlicher Institutionen. Diese liegen in der dramatischen Verkleinerung kirchlicher Präsenz in der Gesellschaft aufgrund des Mitgliederrückgangs und fehlender Reformbereitschaft. „Es geht“, so das Fazit des Autors, „im Großen und Ganzen alles weiter wie bisher.“ Der Grund dafür liege im „korporatistischen Setting“ des spezifisch deutschen Staatskirchensystems, das die Großkirchen auch nach 1919 enorm privilegierte, ihnen ihre starke gesellschaftliche Stellung und eine weitgehende finanzielle Unabhängigkeit verlieh. Die EKD konnte sich so losgelöst von den tatsächlichen Mitgliederinteressen gleichsam als ein eigener Kosmos entwickeln und die soziale Seite christlichen Glaubens und ein entsprechendes Engagement ausklammern. Vor dem Hintergrund dieser Skizze wird nun der Begriff „substanzielles Christentum“ eingeführt. Er bezeichnet die Erfahrung basaler Wirkungen christlichen Glaubens im Leben als Halt, Kraft, Gemeinschaft oder Sinn. Solche substanziellen Glaubensformen zeigen religions- und kirchensoziologische Forschungen bei Menschen, die sich in der Relation zu Jesus Christus in ihrem konkreten Lebensumfeld kontextualisieren, und offenbaren die Differenz zwischen existenziellem und bloß nominellem Christsein. Als Merkmale „substanziellen Glaubens“ erhalten die Erfahrung der Realität Gottes, die Gegenwart des Leibes Christi im Alltag, transformative Wirkungen seines Geistes oder Konversionen neue Bedeutung.

Mit seinem Ansatz einer „Soziotheologie“ entwickelt der Autor im zweiten Kapitel Überlegungen und Perspektiven auf kirchliche Gegenwartsfragen und liefert dazu Hintergründe, Analysen, Impulse und Thesen. Sein Ziel ist es, „die Theologie in die wesentlichen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und sozialen Praktiken der Gegenwart hineinzuziehen […], ohne sie als solche preiszugeben“. Vielmehr soll sie an Relevanz gewinnen und zur Gottesbegegnung verhelfen. Kapitel drei gibt einen inspirierenden Überblick, wie die Soziologie in den 1960er Jahren die Theologie befruchtete und die Krisenjahre einen Durchbruch mit der positiven Deutung säkularer Logiken brachten, der zur Festigung des Volkskirchensystems in Westdeutschland beitrug. Die folgenden drei Kapitel vertiefen Einzelaspekte. Zunächst bietet der Autor einen Überblick zum Armutsdiskurs in Theologie und Kirche der letzten beiden Jahrzehnte. Darauf folgt ein Kapitel mit zehn Thesen zum Leben in der Erwartung des Geistes Gottes als einer innerweltliche Gesetzmäßigkeiten transformierenden Kraft. Im Schlusskapitel beschreibt der Autor, wie seine Kirche „systemische Trägheit“ überwinden, gesellschaftlichen Trends zum Trotz innovativ gestalten und Resilienz entwickeln kann. Alles in allem ein Buch, dessen ehrliches Ringen mit der kirchlichen Krise spürbar ist – substanziell, informativ, bilanzierend, analytisch und an vielen Stellen persönlich.


Dr. habil. Friedemann Burkhardt, Dozent im Bereich Praktische Theologie an der Internationalen Hochschule Liebenzell