Neues Testament

Christine Jacobi: Jesusüberlieferung bei Paulus?

Christine Jacobi: Jesusüberlieferung bei Paulus? Analogien zwischen den echten Paulusbriefen und den synoptischen Evangelien, BZNW 213, Berlin: W. de Gruyter, 2015, XV+432 S., geb., € 119,95, ISBN 978-3-11-040591-0

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Die vorzustellende Arbeit wurde im Wintersemester 2014/15 von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen und für den Druck überarbeitet.

Im Fokus der Arbeit stehen die Texte Röm 12,14–21 (Kap. II: 47–122); 1Thess 5,1–11 (Kap. III: 123–187); 1Kor 7 (Kap. V: 196–264), sowie die Einzelverse 1Kor 11,23a (Kap. VI: 265–298) und Röm 14,14 (Kap. VII: 299–386). Eine Einführung in „Fragestellung und methodische Erwägungen“ (Kap. I: 1–46) eröffnet den Band, abgeschlossen wird er durch eine „Schlussbetrachtung“, in der die Ergebnisse knapp gebündelt werden (Kap. VIII: 387–396). Das vierte Kapitel fasst die „Überlegungen zu Röm 12,14–21 und 1Thess 5,1–11“ zusammen (189–193). Die genannten Texte aus den authentischen Paulusbriefen wurden ausgewählt, weil bei ihnen ein recht hoher Konsens in der Forschung bestehe, dass eine „deutliche Nähe zu synoptischem Material“ vorliege (39).

J. stellt in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von der v. a. von Dale C. Allison, Richard Bauckham, Samuel Byrskog und James D. G. Dunn vertretenen memory- und orality-Theorien für die Überlieferung von Jesustradition eine im Anschluss an ihren „Doktorvater“ Jens Schröter entwickelte (kulturwissenschaftliche Einsichten aufgreifende) Theorie vor, wonach das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart grundsätzlich die „Aneignung von Überliefertem“ bedinge (12). Der Begriff der Tradition sei daher „als das Ergebnis der Durchdringung von Gegenwartsinteressen und eines Vergangenheitsbezugs (zu verstehen)“ (39f). Ihres Erachtens „[sind] [d]ie paulinischen Analogien zu synoptischer Überlieferung dann nur unzureichend erfasst, wenn sie als ethische Anwendung der Jesustradition und als Anspielungen auf einen Bereich von Jesustradition mit eigenem Profil interpretiert werden. Sie müssen vielmehr als autonome Aneignung des Wirkens Jesu und des Heilsereignisses verstanden werden.“ Deshalb müssen „die Kontexte der Parallelüberlieferungen bei Paulus (sc. zur synoptischen Jesusüberlieferung; Hervorhebung FWR), die als Überlieferungskontexte Auswahl und Rezeption der Traditionen wesentlich gesteuert und geformt haben, im Zentrum stehen.“ (37) Ziel der Arbeit ist es daher, „Umrisse frühchristlicher Tradition und den Umgang mit ihr besser nach(zu)zeichnen“ (39). Um diesem Ziel nachzukommen, weist J. auf die Unterschiedlichkeit der einzelnen Texte, auf „die je verschiedenen Profile der Paralleltradition“ (42), hin: Zum einen liege Tradition vor, die ohne Kennzeichnung in den (paulinischen) Text einflösse („anonyme frühchristliche Überlieferung“ [Röm 12,14–21; 1Thess 5,1–11]; 42f) und solche, die durch eine entsprechende Einleitung als Herrenworte (1Kor 7,10f; 9,14; 11,23–25; [43–45]) vom Kontext abgegrenzt seien. Schließlich wird auf Stellen aufmerksam gemacht, die „argumentative Bezugnahmen auf den Kyrios ohne synoptische Parallele“ aufweisen (45f), dabei werden Stellen wie 1Kor 14,37; 1Thess 4,2.15 relevant, aber auch Belege mit Argumentationsmustern wie „durch/im Herrn“ (Röm 14,14; Phil 2,19 u. ö.). Zum anderen sei der materiale Gehalt der Texte völlig unterschiedlich. In jedem Fall sei daher gesondert danach zu fragen, wie der „strukturelle Umgang“ mit der Tradition im jeweiligen Kontext erfolge –zunächst ohne Rücksicht auf deren Inhalt, wohl aber in dem Wissen, dass die synoptische bzw. paulinische Verarbeitung der Tradition nicht unabhängig vom Inhalt erfolge (41).

Die Ergebnisse der Untersuchung für die einzelnen untersuchten ntl. Texte können hier nicht nachgezeichnet werden. In jedem Fall stellt die Arbeit eine differenzierte und profilierte eigene Proposition zur Diskussion um die Rezeption von Jesustradition bei Paulus dar, die einer kritischen Rezeption wert ist. Exemplarisch sei darauf verwiesen, dass J. u. a. aufgrund der Makrostruktur des Röm und aufgrund der tatsächlichen inhaltlichen Differenzen zu synoptischen Paralleltexten (z. B. „segnen“ vs. „lieben“) in Röm 12,14 eher paulinische Rezeption von weisheitlicher Tradition (Spr 24,17; 25,21) als eine Anspielung auf ein Jesuslogion annimmt.

Insgesamt kann J. keine Textrezeption bei Paulus erkennen, die sich auf den irdischen Jesus zurückführen ließe. Die überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen enden meist mit einer Feststellung wie sie exemplarisch etwa bei der Untersuchung von 1Kor 7,10f formuliert ist: Paulus kannte eine „Tradition, innerhalb derer … (ein entsprechendes Logion, FWR) … als Wort Jesu bzw. des Kyrios mit einem schöpfungstheologischen Eheverständnis verknüpft war und zu der wohl auch schon die Ablehnung der Wiederheirat gehörte“ (255), wobei Paulus die jeweilige Tradition theologisch selbständig weiter entwickelt; hier u. a. durch die Implementierung von Gen 2,24 (LXX) in einen christologischen Argumentationszusammenhang, wobei Paulus damit anders verfährt als die Synoptiker (263).

Damit bleibt J. konsequent in ihrem eingangs gesteckten Interpretationsrahmen, wonach die paulinischen Texte vor allem nach der „Aneignung von Überliefertem“ befragt werden sollen und die Makrotexte (Kultur, Argumentationslinien u. a.) den Fokus bei der Textinterpretation bilden. Diese, in dieser Breite angelegte Perspektive fällt bei den meisten Versuchen, Jesusworte bei Paulus nachzuweisen, eher weniger intensiv aus. Der Appell, künftig diese Perspektive (noch) eingehender zu reflektieren, bleibt u. a. das Verdienst und die Herausforderung der vorliegenden Arbeit. Ob sich dadurch allerdings die Bewertungen der einzelnen Logien in ihrer – wie auch immer in einzelnen vorgestellten – Rückführung auf den irdischen Jesus tatsächlich verändern werden, bleibt abzuwarten. Jedenfalls dürfte das Urteil, „dass Jesus als Traditionsurheber und als Lehrer für Paulus nicht relevant ist“ (392), kaum allgemeine Zustimmung gewinnen.

Kritisch bleibt anzufragen, warum z. B. die Überlegungen von A. D. Baum, Der mündliche Faktor und seine Bedeutung für die synoptische Frage, TANZ 49, Tübingen 2008, von der Autorin nicht beachtet worden sind: Das Gespräch (nicht nur) mit dieser Arbeit hätte der Dissertation gewiss einen noch erweiterten Horizont ermöglicht. Den Versuch mit soziologischen oder kognitiv-psychologischen (u. a. mnemotechnischen) Erkenntnissen damit abzutun, es würden „moderne Bilder über den Ablauf der frühchristlichen Überlieferungsgeschichte in die Interpretation der Stellen bei Paulus eingetragen“ (389), wird jedenfalls diesen Versuchen nicht gerecht, so berechtigt der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung bei der „jeweilige(n) Endgestalt und (den) kontextuellen Deutungsaspekte(n) der Überlieferungen“ (390) auch ist.

Die Register sind sehr knapp gehalten, so dass sich die Arbeit über diese nur schwer erschließen lässt. – Auf die Dublette S. 21f = S. 31 Anm. 99 sei hingewiesen.

 

Dr. Fritz Röcker, Pfarrer und Kirchenrat der Württembergischen Landeskirche, Calw

 

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