Altes Testament

Karl Möller: Jonah’s Story, Our Challenge

Karl Möller: Jonah’s Story, Our Challenge. Reading a Biblical Narrative in Today’s Church and World, London: SCM Press, 2023, Pb., VII + 213 S., ca. € 35,–, ISBN 978-0-334-06135-9


Karl Möller hat viele Jahre in England an Universitäten (Gloucestershire, Lancaster) und in kirchlichen Bildungseinrichtungen gelehrt. Er hat im renommierten Projekt „Scripture and Hermeneutics“ mitgearbeitet und einen wichtigen Methodenbeitrag zur Prophetenauslegung vorgelegt (A Prophet in Debate, London 2003).

Im vorliegenden Buch stellt Karl Möller maßgebliche Interpretationsansätze in der gegenwärtigen Jona-Auslegung vor und verhilft damit seinen Leserinnen und Lesern, mindestens zwei Welten genauer zu erkunden. Zum einen können sie auf diesem Weg tiefer in das Buch Jona selbst eintauchen. Zum anderen nimmt das Buch sie mit, die immer weiter sich differenzierende Welt der Bibelinterpretation kennenzulernen. Mit eigenen Bewertungen hält Möller sich vielfach zurück. Ihm geht es vor allem darum, seine Leserinnen und Leser selbst zum genaueren Hinsehen zu ermutigen, für die Komplexität von Interpretationsvorgängen zu sensibilisieren sowie zu befähigen und die Vielfalt der Interpretationsvorschläge nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als Chance. Darin kommen die sensible, ansprechende Verwendung von Sprache, die Weite der Wahrnehmung, die Begeisterung für die biblischen Texte aber auch für Literatur überhaupt (sowohl über die akademische als auch über die westliche Welt hinaus) und nicht zuletzt die Verbundenheit mit marginalisierten Menschen, die Karl Möller und seine Publikationen auszeichnen, deutlich zum Tragen.

In Kapitel 1 (Jonah’s Readers: Perspectives on Interpretation) benennt Möller die Ziele, die er mit seinem Buch verfolgt, stellt Jona als geeignetes Beispiel für die Begegnung mit unterschiedlichen Interpretationsansätzen vor und führt in die drei maßgeblichen Größen „Autor“, „Text“ und „Leser“ im Interpretationsprozess ein.

Mit Kap. 2 richtet Möller das Augenmerk auf den historischen Kontext der Entstehung des Jonabüchleins. Er skizziert eine forschungsgeschichtliche Entwicklung von der historischen Kritik zur sozialgeschichtlichen Auslegung und stellt dann zwei markante Positionen vor: Ehud Ben Zvi bestimmt das Jonabuch als Produkt von Jerusalemer Schriftkundigen für den begrenzten Kreis der Schriftkundigen („literati“) in der persischen Provinz Jehud. In seinem sozialgeschichtlichen Interpretationsansatz bezieht Lowell Handy verschiedene Disziplinen ein, um den Einfluss des sozialen Kontexts auf die Entstehung des Jonabuches sowie umgekehrt den Einfluss dieses Texts auf den sozialen Kontext zu bestimmen. Auf die literargeschichtlich ausgerichtete historische Auslegung, die nach möglichen mehrstufigen Prozessen der Buchentstehung fragt (vgl. in jüngerer Zeit z. B. J. Jeremias, P. Weimar), geht Möller nicht weiter ein.

In Kap. 3 (Jonah’s Art and Reception: The Poetics of a Biblical Narrative) wendet sich Möller erzähltextanalytischen Interpretationsansätzen zum Jonabuch zu. Hier verfolgt er weniger einzelne paradigmatische Lektürevorschläge, sondern geht zunächst den maßgeblichen Aspekten einer Erzählung entlang und was sich dazu im Jonabuch entdecken lässt. Darüber hinaus betont Möller den Wert, das Jonabuches als kunstvolle Erzählung wahrzunehmen, diskutiert die Frage der Gattung und in diesem Zusammenhang die Rolle von Humor im Jonabuch und verweist auf die Rolle der Leser im Interpretationsprozess.

Besonders wertvoll ist in diesem Kapitel die umsichtige Diskussion über die humoristischen Anteile im Jonabuch. Möller stellt die dafür maßgeblichen Hinweise (insbesondere ungewöhnliche Formulierungen und Übertreibungen) zusammen. Er weist mit anderen auf die gelegentlich impliziten antijudaistischen Tendenzen in einigen satirischen Interpretationen des Jonabuches hin. Schließlich stellt er mit der klaren Definition von „Satire“ und Erwägungen über Jona als „karnevalesker“ Literatur (Michail Bachtin aufnehmend) die entscheidenden Weichen für eine differenzierte und ausgewogene Bestimmung der humoristischen Aspekte der Jonaerzählung. Man mag fragen, ob die in diesem Zusammenhang von Yvonne Sherwood vorgeschlagene Stoßrichtung der karnevalesken Jonaerzählung als kritischer Interaktion mit der prophetischen Tradition nicht wiederum ein viel zu machtvolles, monolithisches Prophetenbild voraussetzt. Doch wer immer der Frage nach Übertreibungen und humorvollen Zügen in der Jonaerzählung nachgehen will oder sich gar dazu zu äußern beabsichtigt, sollte in dieser Behandlung den Ausgangspunkt für eine intensivere Beschäftigung nehmen.

In Kap. 4 (Jonah’s Challenge: Contextual, Liberationist and Postcolonial Interpretation) befasst sich Möller mit „kontextuellen Hermeneutiken“, befreiungstheologischen und postkolonialen Interpretationen. Unter „kontextuelle Hermeneutiken“ geht Möller solchen Jona-Auslegungen nach, die nach dem Beitrag ihres spezifischen kulturellen Kontexts im Interpretationsprozess fragen (Interpretationen aus afrikanischer bzw. asiatischer Perspektive, aus der Perspektive von Inselbewohnern). Daran schließen sich Beispiele befreiungstheologischer Interpretationen an, in denen sehr gut deutlich wird, wie problematisch es aus der Perspektive von Unterdrückten ist, Jonas Not mit dem Vergebungswillen Gottes so selbstverständlich (und überheblich) negativ zu sehen. Schließlich geht Möller ausführlicher auf Lektürevorschläge aus postkolonialer Perspektive ein, d. h. aus Ländern, die als Kolonien lange Zeit unterdrückt wurden und in denen das Weiterwirken kolonialer Vorurteile und Entmachtungsstrategien ideologiekritisch beleuchtet wird.

Wer sich bisher mit diesen Interpretationsansätzen wenig beschäftigt hat, findet in diesem Kapitel über die aufgeschlossene Darstellung von Jona-Auslegungen aus unterschiedlichen, meist marginalisierten, kulturellen Kontexten eine kundige Hinführung zu diesen oft auch gegensätzlichen, vielfältigen Interpretationsvorschlägen. Freilich wäre es gerade um der Verständigung über diese wichtigen Interpretationsansätze bisher marginalisierter Interpretationsgemeinschaften willen hilfreich gewesen, doch zunächst etwas ausführlicher in die recht unterschiedlichen Theorieansätze insbesondere der postkolonialen Interpretation einzuführen.

In Kap. 5 (Jonah’s Depths: Psychological Biblical Criticism) stellt Möller einige psychologische Interpretationsansätze zum Jonabuch vor. Darin geht er zunächst auf unterschiedliche Ansätze psychologischer Interpretation ein, konzentriert sich dann auf tiefenpsychologische Interpretationen in Anknüpfung an C. G. Jung, auf existentialistische psychologische Interpretation, stellt den spezifischen Beitrag von Avivah Zornberg heraus und integriert in dieses Kapitel die schnell anwachsende trauma-hermeneutische Bibelinterpretation (Reading Jonah through the lens of trauma). Mehr als in anderen Kapiteln nimmt Möller hier auch kritische Bewertungen der referierten Vorschläge vor – durchwegs angebracht und nachvollziehbar.

Im abschließenden Kap. 6 (Jonah’s ‘Otherkind’: Ecological Readings) greift Möller eine noch recht junge Entwicklung auf, zu der aber insbesondere in der Auslegung des Jonabuches bereits einige wegweisende Veröffentlichungen vorgelegt wurden. Mit „ecological readings“ soll der Anthropozentrismus überwunden werden, der jegliche Bibelinterpretation bestimmt, und demgegenüber größere Aufmerksamkeit gerichtet wird auf die Rolle, die nicht-menschliche Geschöpfe in biblischen Texten spielen. Dieser Ansatz versteht sich als eine Haltung, mit der Bibeltexte angesichts der ökologischen Herausforderungen gelesen werden. Hier führt Möller ausführlicher in die theoretischen Voraussetzungen dieses Interpretationsansatzes und seiner weiteren Ausdifferenzierungen ein, bevor er einige Beispiele zur Jonainterpretation charakterisiert. Im besten Fall kann man die Vielstimmigkeit – des Jonabuches wie seiner Auslegung –, die Möller so vorzüglich erschließt, als Einladung annehmen, sich mit den neu gestellten Fragen neu dem Jonabuch selbst zuzuwenden. Möller bietet mit seinem Buch dafür einen umsichtigen, die verschiedenen Meinungen fair darstellenden und den Bibeltext zutiefst wertschätzenden Wegbegleiter und nicht zuletzt in seiner feinfühligen Sprache ein regelrechtes Lesevergnügen. Unbedingt lesen!


Prof. Dr. Torsten Uhlig, Professor für Altes Testament an der Evangelischen Hochschule Tabor, Marburg