Tova Ganzel: Ezekiel’s Visionary Temple in Babylonian Context
Tova Ganzel: Ezekiel’s Visionary Temple in Babylonian Context, BZAW 539, Berlin: De Gruyter, 2021, geb., viii+183 S., € 99,95, ISBN 978-3-11-074067-7
Tova Ganzel (Bar-Ilan Universität) legt eine Studie vor, die den babylonischen Kontext der Tempelvision Ez 40–48 aufzuzeigen unternimmt.
Das erste Kapitel hat einführenden Charakter. Ganzel legt dar, dass ihr Ausgangspunkt innerbiblische Vergleiche sind, wobei sie die Elemente der Tempelvision herausarbeiten möchte, die in biblischen Parallelen fehlen, um ihre Bedeutung vom babylonischen Kontext her zu erkunden. Damit ist natürlich auch gesagt, dass sie damit rechnet, dass Ez 40–48 babylonisches, nicht persisches oder gar hellenistisches, Kolorit hat und darum insgesamt ins 6. Jh. datiert werden sollte (unabhängig davon, ob es von Ezechiel oder jemand anderem verfasst oder ediert wurde).
Im zweiten Kapitel führt Ganzel den babylonischen Kontext des Ezechielbuches ein und gibt einen Überblick über das Quellenmaterial zu babylonischen Tempeln, sowie zu den Primär- und Sekundärquellen, die zu den judäischen Exilierten in Babylon vorliegen (neben den biblischen Texten insbesondere die Al-Yahudu-Tafeln und das Murašu-Archiv). Sie betont, dass das babylonische Milieu die Exilierten auch dann beeinflusste, wenn die theozentrische Weltsicht des Ezechielbuches nicht ohne weiteres mit der babylonischen Religion in Übereinstimmung zu bringen ist.
Das dritte Kapitel befasst sich mit der Sprache der Tempelvision. Da Aramäisch die Verwaltungssprache des neubabylonischen Reiches war, sich im Tempelkontext dagegen das Akkadische lange hielt, ist nach Einflüssen beider Sprachen zu fragen. Ganzel sieht im Wesentlichen drei Bereiche, in denen aramäische oder akkadische Echos zu finden sind: Einzigartige Lexeme, die im Tempelplan verwendet werden; Bezeichnungen, die für den Tempel verwendet werden; der Name, welcher im letzten Vers der Stadt gegeben wird.
Den Tempelkomplex untersucht das vierte Kapitel. Der Ezechiel-Tempel wird dabei nicht nur mit anderen in der Hebräischen Bibel beschriebenen Heiligtümern verglichen, sondern auch mit archäologisch ausgegrabenen Tempelstrukturen des vorexilischen Israel (Arad, Dan, Motza). Trotz vieler Unterschiede v. a. im Bereich der Vorhöfe stimmt der Ezechiel-Tempel mit dem Salomonischen Tempel in seiner dreigliedrigen Raumstruktur des eigentlichen Tempelgebäudes (Allerheiligstes, Heiliges, Vorhalle) überein. Die sonst in der Diskussion wichtigen Sechskammertore spielen überraschenderweise bei Ganzel kaum eine Rolle. Vor allem in den großen quadratischen Dimensionen der Tempelanlage, den verschiedenen Kammern und dem Wasser, das vom Tempel ausgeht, sieht sie spezifisch babylonische Einflüsse.
Anschliessend vergleicht Ganzel in Kapitel 5 die Rollen des Tempelpersonals bei Ezechiel und in Babylon. Neben der Frage der Hierarchie, die auch mit den Zugangsbefugnissen zu tun hat, untersucht sie auch Priesterregeln (Haarstil, Kleidung, Heirat u. a.), Versorgung (Einkommen, Landbesitz), sowie die Aufgaben, zu denen auch die Volksbelehrung gehört. Auch die Rolle des Fürsten wird kurz diskutiert. Die Abwesenheit des Hohepriesters, der Ältesten und Richter, die Distanzierung der Leviten und nicht-zadokidischen Priester, sowie die administrative Rolle des Fürsten sieht Ganzel als Innovationen Hesekiels, für deren Verständnis sowohl der breite biblische Kontext, wie auch der spezifische Kontext des Ezechielbuches und eben auch der babylonische Hintergrund wesentlich sind.
Im sechsten Kapitel geht es um Tempel-Rituale, die im ersten Monat stattfinden und um die komplexe Frage der Abweichung von Terminen und rituellen Details von den im Pentateuch beschriebenen Ritualen. Das babylonische Hauptfest in diesem Monat war Akitu, das babylonische Neujahrsfest. Ganzel vermutet, dass das Thema der Reinigung vor dem Passafest, wie es sich in den Vorderen Propheten findet, sich mit Reinigungsmotiven des Akitu-Festes verbunden hat, wobei beim Akitu-Fest auch die Rückkehr der Gottheit in den Tempel nach der Tempelreinigung eine Rolle spielt. Wie sie richtig bemerkt, handelt es sich beim Akitu-Fest allerdings um eine jährliche Prozession, während bei Ezechiel die Reinigung und Reinhaltung darauf abzielen, dass die Herrlichkeit Gottes anschließend bleibend im Tempel wohnt.
Im Schlusskapitel trägt Ganzel die Resultate der Studie zusammen und zieht einige Schlussfolgerung. Im Unterschied zu anderen Forschungspositionen, die in Ezechiels Tempelvision v. a. das Anliegen einer Subversion neobabylonischer Theologie sehen, betont sie, dass die treibende theologische Kraft hinter der Tempelvision eher das starke Anliegen sei, die Heiligkeit des künftigen Tempels besser zu bewachen, um zu verhindern, dass er das Schicksal des ersten Tempels erleide. Dazu würden auch Anregungen aus dem babylonischen Kontext aufgenommen.
Insgesamt ist diese Studie äußerst informativ. Die Grundthese eines babylonischen Kontextes für Ezechiels Tempelvision ist plausibel. Modelle, die große Teile der Tempelvision in persische oder gar hellenistische Zeit datieren, tun dies nicht aufgrund der internen und externen Evidenz, sondern aus einer Logik heraus, dies sich aus bestimmten redaktionskritischen Modellen und Annahmen einer Literaturgeschichte der Hebräischen Bibel ergeben.
Gleichwohl kann ich Tova Ganzel nicht in allen Deutungen folgen und habe auch einige methodische Anfragen. Wie ich in meiner Monografie zu Ez 40–48 argumentiert habe (Wiederhergestellter Gottesdienst. Eine Deutung der zweiten Tempelvision Ezechiels [Ez 40–48] am Beispiel der Aufgaben der Priester und Leviten, HBS 95, Freiburg: Heder, 2020), ist der Schlüssel zum Verständnis der Vision darin zu sehen, dass die Herrlichkeit Gottes nicht in den Tempel (ins Allerheiligste) zurückkehrt, sondern auf den Tempel, so dass sie nach außen hin sichtbar bleibt. Dies führt zu Neuerungen v. a. gegenüber Pentateuchordnungen, die sich innerbiblisch nachvollziehen lassen. So werden etwa alle Priester in hohepriesterlichen, d. h. zadokidischen Status gehoben, es gibt keine nicht-zadokidischen Priester mehr. Manches, was Ganzel für spezifisch (neu-)babylonisch zu halten scheint, ist m. E. eher altorientalisches Allgemeingut, so z. B. die Verbindung von Heiligtum und Wasserquelle oder die hierarchische Abstufung des Tempelpersonals. Dennoch ist das Buch ein wichtiger Beitrag zum babylonischen Hintergrund der Tempelvision Ezechiels und kann auch gut als Nachschlagewerk verwendet werden, da die Themen und Quellen systematisch zusammengestellt und ausgewertet werden.
Prof. Dr. Benjamin Kilchör, Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel