Johannes C. de Moor: Micah
Johannes C. de Moor: Micah, Historical Commentary on the Old Testament, Leuven: Peeters, 2020, Pb., XI+454 S., € 76,−, ISBN 978-90-429-4363-6
Der kürzlich verstorbene Kampener Alttestamentler Johannes de Moor, (1935–2023), legt mit diesem Kommentar sein Lebenswerk vor. Über 60 Jahre hat ihn die Arbeit am Buch Micha beschäftigt.
Nach dem Einleitungsteil zu Text, Struktur, Forschungsgeschichte und der Rezeption von Micha im Altertum folgen die Hauptkapitel mit der Auslegung (37–379). Eine ausführliche Bibliografie (383–442) spiegelt die langjährige Beschäftigung mit diesem Prophetenbuch wider. Er gliedert den Text in elf Abschnitte.
Jedes der elf Kapitel beginnt mit einer eigenen Übersetzung, in Sinnzeilen gegliedert. Als nächstes folgt eine allgemeine Beschreibung („Essentials and Perspectives“) des Abschnitts, sowie eine Klärung der Absicht der Verf. oder Redaktors. Ein kurzer Blick auf die Rezeptionsgeschichte, wie sie die alten Übersetzungen bieten schließt sich an. Dann erst folgt die detaillierte Auslegung („Exposition“). Diese ist wiederum gekennzeichnet durch einen Blick auf die Struktur, dann die exegetischen Erläuterungen. Verf. legt großen Wert auf textliche, grammatische oder lexikalische Probleme. Der Text soll innerhalb des historischen Kontexts erläutert werden.
Verf. beachtet ganz besonders die Unterteilung des Textes in Sinnabschnitte, der späteren Petuchot und Setumot, einer Gewohnheit, die sich in nordwestsemitischen Texten seit dem 13. Jh. v. Chr. nachweisen lässt (11). Diese sind leider zu lange für die Auslegung vernachlässigt worden.
Dieser Kommentar unterscheidet sich wohltuend von vielen anderen dadurch, dass er den größten Teil des Prophetenbuchs (ca. 75 %) auf Micha zurückführt (14), (außer 1,1; 2,12–13; 4,1–7; 5,9–13; 6,4–5a und 7,14–20). Im Vergleich mit der schriftlichen Tradierung assyrischer Orakel nimmt er an, dass auch die Aussagen der Propheten Israels durch Namens- und Ortsnennung üblicherweise angegeben wurden „for the purpose of verification“ (8). Gleichwohl darf die Wirkung der Erinnerung und mündlicher Weitergabe nicht unterschätzt werden, wenn z. B. gut hundert Jahre nach Micha sich die Ältesten zu Jeremias Zeit noch genau an Michas Ansagen erinnern können (vgl. Mi 3,12 und Jer 26,18).
De Moor geht davon aus, dass es sich bei der Entstehung des Michabuches (eine „Anthologie“) um eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Propheten und dem Berufsschreiber gehandelt hat. Generell aber lässt sich der Prozess der Umwandlung von mündlicher Rede in ein Buch nicht rekonstruieren. Aus diesem Grund hält er sich im Kommentar sehr davon zurück, die heutigen vielfältigen hypothetisch entworfenen Redaktionsschichten und -prozesse zu kommentieren.
Über die Zuordnung von Kap. 1–3 zu Michas Verkündigung herrscht seit langem weitgehend Übereinstimmung, mit Ausnahme des Abschnitts 2,12–13, den er als Nachtrag aus der Exilszeit versteht. Diese Verse dienen dazu, „to mitigate the impact of what Micah had preached” (152).
Die Abschnitte 3,9–12 (die angedrohte Zerstörung des Tempels) und 4,1–7 (die herrliche Wiederherstellung vom Tempel und dem Zion) können gar nicht schärfer aufeinander stoßen. Mi 4,1–7 // Jes 2,2–5 seien weder auf Jesaja noch auf Micha ursprünglich zurückzuführen, sondern als Trostworte eines nachexilischen Redaktors zu verstehen, dessen Absicht es war „to mitigate the impact of the immediately preceding announcements of severe punishment and the destruction of the temple on Mt Zion“ (190).
Den Abschnitt 4,8–5,14 bezieht er auf den syrisch-ephraimitischen Krieg. Die Frau, die ein Kind erwartet, bezieht er auf die Königin, die Frau des Ahas, die mit Hiskia schwanger ist und aus Gründen der Sicherheit nach Bethlehem gebracht wurde (237f; 250).
Auch den folgenden Abschnitt Mi 6,1–16 bezieht er auf die Königszeit unter Ahas.
6,4–5 setzen die Kenntnis „of the entire Hexateuch in its present late form“ voraus (287). Dem ist zuzustimmen. Ob die Androhung einer Krankheit (6,14) sich auf Ahas bezieht und seine Erkrankung als chronische Verstopfung (308) zu deuten sei, lassen wir dahingestellt.
Den Abschnitt 7,1–13 bezieht de Moor weder auf die klagende Frau/Stadt, wie Gunkel es gedeutet hatte, noch auf Micha als klagende Person, weil niemand seine Warnungen hören wollte. Stattdessen sieht er in ihm eine Anrede der (feindlich gesinnten) Frau Jerusalem an den Propheten (320, 327, 334–336). Die Frage „wo ist der Herr, dein Gott?“ (7,10) bezieht er mit Berufung auf einige Manuskripte und ihre maskuline Form als eine Frage, die die Herrin Jerusalem dem Propheten stellt (354f.).
Auch den letzten Abschnitt, 7,14–20 ordnet er als nachexilische Ergänzung zum Buch Micha ein (365), denn der Tempel sei noch nicht wieder aufgebaut, der Herr wohnt noch „einsam im Wald“ (365). Das Argument, dass 7,14–20 auf die Tradition von Ex 15 zurückgreife und der Vergleich der Stichworte (vgl. 366) ist alles andere als überzeugend.
Wer das Buch aus der Hand legt, hat enorm von dieser gelehrten Arbeit profitiert und ist dem Verfasser für alle Einsichten und Anregungen bleibend zu Dank verpflichtet.
Zurück bleiben neben Einzelheiten vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Unheils- und Heilsansagen. Als markantes Beispiel bietet sich Mi 3,9–12 und Mi 4,1–5 an. Wieso können beide Aussagen nicht aus dem Mund Michas stereo gehört werden? Der Prophet hat über Jahrzehnte gewirkt und das vor unterschiedlichen Hörern. Das Denkmuster, wonach die Heilsweissagungen die strengen Gerichtsandrohungen abmildern („to mitigate“) sollen, vermag nicht zu überzeugen. Liegt die Ursache für diese scheinbare Unvereinbarkeit von Gericht und Heil in der Prophetenverkündigung vielleicht im Gottesbild?
Dr. Manfred Dreytza, ehem. Studienleiter, Krelingen