Historische Theologie

Thorsten Dietz: Menschen mit Mission

Thorsten Dietz: Menschen mit Mission. Eine Landkarte der Evangelikalen Welt, Holzgerlingen: SCM R. Brockhaus, 2022, geb., 496 S., € 24,99, ISBN 978-3-417-00015-3


Es ist nicht alles Gold, was glänzt; es glänzt aber auch nicht alles, was Gold ist. Die Deutung der Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit der „Evangelikalen“ hängt entscheidend an der Position des Autors, die nicht immer leicht zu bestimmen ist. Thorsten Dietz schickt seine Leser in dieser Frage auf eine abenteuerliche Suche, die manchmal ein wenig an ein Versteckspiel erinnert. Dietz wechselte im Herbst 2022 von der Hochschule Tabor zur Projektstelle Fokus Theologie (Erwachsenenbildung der reformierten Kirchen) nach Zürich und bezeichnet sich selbst als Grenzgänger (454f). Er engagiert sich in Worthaus von Sigfried Zimmer, welcher sich stark von Evangelikalen abgrenzt (334; vgl. Markus Till, „Worthaus – Universitätstheologie für Evangelikale?“, https://blog.aigg.de/?p=3594), und hat sein Buch durch den Worthaus-Podcast wort-und-fleisch.de vorbereitet. Dietz vertritt einen klassischen NOMA-Ansatz (Trennung von [theologischer] Wahrheit und [naturwissenschaftlicher] Wirklichkeit, non-overlapping magisteria), für den die Bibel in den Wissensbereichen Geschichte/Natur ein Kind ihrer menschlich-fehlerhaften Zeit ist (268f, 411). Solider Ausgangspunkt zur Deutung von Wirklichkeit und Bibel sind für ihn die Methoden und Fakten moderner Natur- und Bibelwissenschaft (247–250, vgl. 174, 178). Ähnlich positiv steht Dietz grundsätzlich zur säkular geprägten Kultur des Westens einschließlich eines Entwicklungsmodells der Befreiung, an dessen jüngster Stufe die Überwindung der „ausschließlichen Idealisierung der heterosexuellen Einehe“ steht (422). Von dieser Position aus erklären sich manche Wertungen, welche unter „Fair, aber nicht neutral“, aber auch sonst im Text eingestreut sind.

Das Buch soll eine Landkarte der bunten evangelikalen Welt sein und vom Tunnelblick der Verehrer und Verächter befreien (9). Ausgehend von David Bebbingtons vier Merkmalen (Bekehrung, Aktivismus, Biblizismus, Kreuzeszentrierung) stellt Dietz zunächst die Geschichte der weltweiten (19–52) und deutschen (53–64) Evangelikalen dar. Eine größere Lücke zeigt die Gesamtschau hinsichtlich der Bedeutung von Russlanddeutschen und Migrationsgemeinden, die bereits heute aus der evangelikalen Bewegung in Deutschland nicht mehr wegzudenken sind und in Zukunft eine entscheidende Rolle spielen werden (451). 

Weiter historisch orientiert untersucht Dietz die Entwicklungen der Kernthemen Evangelisation (69–97) und soziale Frage (98–127) sowie die Geschichte von Pfingstbewegung (128–169) und Wohlstandsevangelium (142–151). Dabei verzichtet Dietz auf trockene Exaktheiten und Details, sondern bemüht sich um eine unterhaltsame, populärwissenschaftliche Darstellung. Immer wieder greift er einzelne Personen oder interessante (symptomatische) Geschichten heraus und stellt sie auf 1–2 Seiten dar, etwa das Lied „Amazing Grace“ oder das Schicksal Corrie Ten Booms. Eine gute Idee ist die stichpunktartige Darstellung „Unterschiede zwischen deutschen und amerikanischen Evangelikalen“, die jedoch ohne zusätzliche Erklärungen nur schwer verständlich bleibt (63f). Für Dietz ist Lausanne 1974 das zentrale Ereignis (11f), John Stott der zentrale Theologe der Bewegung (77), und dessen Idee des „Double Listening“ (das Hören auf Bibel und Kultur; 190) immer wieder Argument gegen kulturelle Abgrenzung. 

Nach einer Darstellung des Verhältnisses Evangelikaler zu Theologie (170–202) folgen vier Bereiche, welche Dietz als Krisengebiete bezeichnet: Endzeittheorien (207–237), Fundamentalismus (238–277), „Die christliche Rechte“ (278–305) und Postevangelikalismus (306–333). Letzteren deutet Dietz zurecht auf dem Hintergrund der Emerging Church-Bewegung. Bemerkenswert sind seine Ratschläge, welche er Postevangelikalen mit auf den Weg gibt im Umgang mit Bibel, Tradition, persönlicher Verortung und Gemeinschaft (326–328). Im Bereich Baustellen behandelt Dietz weitere weniger problematische Bereiche: das Verhältnis zur Kultur der Moderne (337–369), evangelikale Spiritualität mit Fokus auf der Lobpreiskultur (370–395) und das Verhältnis zum moralischen Wandel der Gesellschaft (396–424). Der Ausblick in die Zukunft erfolgt recht zurückhaltend (425–452).

Ausführlich beschäftigt sich Dietz mit dem politischen Engagement und „Kulturkampf“ von Evangelikalen in den USA. Dabei beklagt er das evangelikale Misstrauen und die „Entfremdung von der Gegenwartskultur“: Religionsfreiheit sei doch Teil der Moderne; realitätsfremd die Angst, in einer säkularen Gesellschaft für seinen Glauben verfolgt zu werden (365). Dabei verschwimmt mitunter der Unterschied zwischen dem positiven Anliegen, Teil einer Kultur zu sein (Inkulturation, Kontextualisierung) und einer (mancher würde wohl sagen: naiven) Offenheit für säkulare Weltanschauungen und Ideologien, deren geistlicher Machtanspruch nicht wirklich ernst genommen wird (354, 357f). Die Suche von Christen nach politischer Einflussnahme im Sinne von Invading Babylon (Bill Johnson) enttarnt Dietz recht (zu?) schnell als Versuchung zur Macht in Analogie zum „konstantinischen Zeitalter“ (345f; 447). Die geschichtliche Darstellung der US-Evangelikalen erscheint hier wie ein schwer belasteter Bus, der unaufhaltsam gegen eine Wand rollt. Denn sie läuft auf das eine Ereignis hinaus: die Wahl von Donald Trump, welche Dietz ausführlich mit Hilfe von Kristin Kobes Du Mez (47–51) und Philip Gorski (280f) analysiert: „Trump war kein Missverständnis der Geschichte. Die Begeisterung für ihn war die logische Konsequenz einer langen Entwicklung“ (50). Es wird sich zeigen, ob die Bedeutung dieses Ereignisses aufgrund seiner Aktualität hier nicht überbewertet und mit Abstand stärker relativiert werden wird, etwa als Symptom der gegenwärtigen Politisierung von Heilserwartungen in den USA.

Auch die Auseinandersetzung mit theologischen Fragen (liberale Theologie, Apologetik, Fundamentalismus, Kreationismus, Ethik) erfolgt größtenteils historisch-soziologisch. Eine tiefere theologische oder gar biblisch-theologische Auseinandersetzung findet nicht statt (die Bibel wird fast nie zitiert; Ausnahme: 411, 414 zur Argumentation gegen eine biblisch-theologische Begründung ethischer Entscheidung), bzw. hat bereits stattgefunden in Weiterglauben. Warum man einen großen Gott nicht kleindenken kann (2018). 

Bei der Darstellung der evangelikalen Theologie in Deutschland wäre zu ergänzen, dass einige Evangelikale noch bis Ende des 20. Jh. aufgrund ihres Bekenntnisses für wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten nicht zugelassen oder ihre Arbeiten in der Beurteilungsphase aus angeblich „formalen Gründen“ nicht angenommen wurden. Viele deutsche evangelikale Promovenden fanden Zuflucht in England, den Niederlanden, den USA und vor allem an der ETF Leuven, vgl. der geschichtliche Rückblick in Andreas J. Beck u. a., (Hg.), The Vitality of Evangelical Theology. Celebrating ETF Leuven at 40, Leuven: Peeters, 2022.

Dietz ist einer der wenigen Theologen, welche die Begriffe „fundamentalistisch“ und „liberal“ trotz anfänglicher Vorbehalte weiterhin recht unbekümmert verwenden. Er verzichtet dabei bewusst auf eindeutige Definitionen (238–241, 270f) und kann die Begriffe so recht flexibel einsetzen. Wenn er sich selbst in einem Kreis von Theologen positioniert, von denen „so gut wie kaum jemand liberal im engeren Sinne ist“ (334), bekommt man bestenfalls eine Ahnung davon, wo er stehen mag. Auf der anderen Seite: trifft die Fundamentalismus-„Keule“ auch denjenigen, der Glaube, Geschichte und Natur nicht trennen möchte, aber mit aufrichtigem Interesse und nicht mit „aggressiver Ablehnung“ der modernen Wissenschaft begegnet (271)? Sicherlich ist die Offenheit des hier gemalten Zerrbildes eines Fundamentalisten nicht als Machtinstrument zur Stigmatisierung angelegt – der Gefahr wird jedoch auch nicht wirklich entgegengetreten. Ähnlich schwierig ist das Verhältnis des Autors zu Intelligent Design und den Kreationisten, denen er eine äußerst einfältige Hermeneutik bescheinigt, etwa die Weigerung, zwischen wörtlicher und metaphorischer Rede zu unterscheiden (242). Doch weckt nicht gerade die Gattungsfrage in historisch-kritischer Hinsicht ([proto]wissenschaftlicher Baubericht, der [pseudo]mythische Elemente fast vollständig vermissen lässt) ernsthafte Zweifel daran, ob der Weltentwurf in Genesis 1 vom Erzähler als metaphorische Rede intendiert ist? Sicherlich, es gibt auch einen primitiven Kreationismus. Doch ist es ein echtes Manko, dass Dietz hier die 40-jährige wissenschaftliche Arbeit der Studiengemeinschaft Wort und Wissen vollständig ausblendet, selbst Reinhard Junker taucht mit keinem Werk in der Bibliographie auf. Dietz endet mit dem Ergebnis, dass man nur dann Kurzzeitkreationist sein könne, wenn man Verschwörungstheoretiker sei, da Menschen unterschiedlichster Kulturen die Evolutionstheorie mit langen Zeiträumen vertreten und diese von daher als gesicherte Wahrheit gelten dürfe (247f). Beide Erklärungen sind natürlich gleichermaßen absurd. Die Evolutionstheorie ist weder Verschwörung noch unhinterfragbar, sondern ein Paradigma (Thomas Kuhn), welches den Rahmen der (kulturübergreifenden) wissenschaftlichen Forschungsgemeinschaft bildet und weiterhin bilden wird, solange sie nicht durch ein verheißungsvolleres Paradigma abgelöst wird. Nicht selten bahnen gerade Forscher, die außerhalb eines vorherrschenden Paradigmas arbeiten, den Weg in eine solche Zukunft.

Trotz der erwähnten Lücken bietet das Werk einen gut informierten Überblick über die Welt der Evangelikalen, der vor allem durch seine Aktualität besticht. Die Belege deutscher und englischsprachiger Literatur sind beachtlich, die meisten der zitierten Bücher sind keine zehn Jahre alt. Dass manches hätte klarer oder präziser formuliert werden können, lässt sich verschmerzen, zumal das Werk aufgrund der interessanten Geschichten und eingestreuten Wertungen alles andere als langweilig ist. Die prachtvoll goldene Aufmachung des Bandes kann die Mängel im Lektorat nur bedingt entschädigen („John Carson“, 187; „Magna Charta“, 351 usw.); insbesondere das Fehlen einiger Kurzbelege in der Bibliographie begrenzt die Prüfbarkeit der Quellen (etwa auf S. 477: Glock, o. A.; Till, 2018; Noll, 2010; Stanley, 2013; Noll, 2003 usw.).


Dr. Siegbert Riecker ist Lehrer an der Bibelschule Kirchberg und Affiliated Researcher an der Evangelischen Theologischen Faculteit in Leuven.