Historische Theologie

Sven Grosse: Gesammelte Aufsätze

Sven Grosse: Gesammelte Aufsätze. Bd. 1: Theologiegeschichte als Dogmatik, 357 S., ISBN 978-3-374-07203-3; Bd. 2: Brennpunkte der Theologiegeschichte, 335 S., Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2022, Pb., je € 58,–, ISBN 978-3-374-07205-7


Sven Grosse ist Professor für Historische und Systematische Theologie an der STH Basel. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Dogmengeschichte. Er wurde an der Univ. Erlangen-Nürnberg promoviert und habilitiert (Berndt Hamm, der dort damals Prof. für Kirchengeschichte war, wird mit seinen Werken in Grosses Beiträgen oft angeführt). Die Professur an der STH Basel ließ Grosse „viel Raum“ (gemeint ist wohl: viel Zeit) für das Veröffentlichen von Aufsätzen (I/5; zur Erläuterung: römisch I oder II beziehe ich auf den Band; nach dem Schrägstrich gebe ich die Seite an). Die beiden Bände bestehen größtenteils aus Beiträgen, die bereits anderswo publiziert waren, teils in Sammelbänden, teils in renommierten Zeitschriften wie „Kerygma und Dogma“ oder „Theologische Quartalschrift“. 

Die Veröffentlichung solcher „gesammelter Aufsätze“ in Buchform ergibt oft eine bunte Mischung diverser Themen. Bei einer solchen Wiederveröffentlichung wird versucht, eine verbindende Klammer herzustellen. Das versucht Grosse folgendermaßen: Er meint, „dass die christliche Lehre auf dreierlei Weise entwickelt werden“ kann: als Schriftkommentar, als Dogmatik und in Form von „historischen Punktbohrungen“ (so in den Einführungen zu den beiden Bänden). Diese Bände gehören in die zuletzt genannte Kategorie. Aber bei „Punktbohrungen“ werden nur jeweils einzelne Aspekte des christlichen Glaubens beleuchtet, daraus ergibt sich kaum die „christliche Lehre“ als Ganze. Da Grosse hauptsächlich dogmatische Themen behandelt, wäre im Titel von Bd. 1 anstelle von „Theologiegeschichte“ passender: „Dogmengeschichte“. Aber da es nur um punktuelle Einblicke geht, ergibt deren Zusammenstellung noch keine Dogmatik (es ist also keine „Dogmengeschichte als Dogmatik“), sondern es bleibt bei 15 Momentaufnahmen aus der Dogmengeschichte, z. B. über die Apologetik Tertullians, oder über „Natur und Schöpfung in den Liedern Paul Gerhardts“.

Bd. 2 heißt „Brennpunkte der Theologiegeschichte“. Auch hier gilt, dass es um einzelne Einblicke geht; z. B. „Die Nützlichkeit als Kriterium der Theologie bei Philipp Melanchthon“, oder um Vergleiche (z. B. Römerbrief-Auslegung bei Origenes, Thomas von Aquin und Luther). Diesen zehn „Brennpunkten“ könnten wohl 100 andere zur Seite gestellt werden. Inwiefern gerade diese hier präsentierten Brennpunkte besonders entscheidend waren für die Dogmengeschichte, so dass sie besonders beachtet werden sollten, erläutert Grosse nicht.

Jeder Band hat am Ende ein Personen- und ein Begriffsregister. Das Register zu Bd. 1 hat jedoch einen systematischen Fehler, es gibt die Seitenzahlen jeweils um 2 zu hoch an. Abgesehen von biblischen Personen wie Jesus oder Paulus kommt in den beiden Personenregistern Martin Luther am häufigsten vor (Grosse ist übrigens ordinierter Pfarrer der Ev.-Luth. Kirche in Bayern). Grosse hat die Dogmengeschichte in voller Länge im Blick, vom Altertum bis in die Gegenwart. Beim Altertum beachtet er Tertullian, Origenes und Augustinus besonders stark (aber auch Platon); beim Mittelalter Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquin; bei der Reformationszeit nach Luther auch Melanchthon (etwas weniger Calvin). Aus der neueren Theologiegeschichte bezieht sich Grosse sehr stark auf Karl Barth, dann aber auch auf die Katholiken John Henry Newman und Hans Urs von Balthasar. Oft erwähnt er auch Schleiermacher, aber als außerhalb der christlichen Tradition stehend (hier begründet: II/93–128).

Die freikirchliche Theologie kommt bei Grosse kaum vor, weder durch einzelne Theologen noch durch Phänomene wie die Täuferbewegung. Da Grosse an der STH Basel unterrichtet, wo auch viele Freikirchler studier(t)en, wäre der Einbezug freikirchlicher Geschichte und Theologie eigentlich naheliegend. Nur kurz erwähnt er den Baptisten John Murton, weil er wahrscheinlich der Verfasser einer von Roger Williams verwendeten Schrift war (II/343). Zum Thema Toleranz („Konkurrierende Konzepte von Toleranz in der frühen Neuzeit“, ab II/229) könnten z. B. der Täufer Balthasar Hubmaier („Von Ketzern und ihren Verbrennern“) oder der Baptist Thomas Helwys („A short Declaration of the Mystery of Iniquity“) erwähnt werden.

Ein bisher unveröffentlichter Beitrag ist die „Dogmatik in Thesen“ (I/319–342). Grosse entfaltet die gesamte Dogmatik in Form von Thesen, entlang von 10 Lehrstücken. Eine solche auf Kürze bedachte Darlegung ist ein besonderes Werk, das für viele Leser anregend sein kann, auch wo sie ihm nicht zustimmen. Diese Serie von Behauptungen wird nur an wenigen Stellen durch Erläuterungen unterstützt. Wenn mich als Leser eine bestimmte These nicht überzeugt, erfahre ich also nicht, warum Grosse die These gerade so formuliert. 

Im Rahmen dieser Thesen legt Grosse auch sein sakramentales Verständnis in Bezug auf Abendmahl und Taufe dar. Dieses Verständnis erinnert mich an traditionellen Katholizismus; es spiegelt jedenfalls kein evangelikales Denken wider. Grosse bezeichnet Taufe und Abendmahl als „Zeichenhandlungen. Sie bewirken aber auch das, was sie bezeichnen.“ (I/238) Beim Abendmahl konzentriert sich Grosse auf dessen „Empfang“ durch den Gläubigen (I/240), es geht dabei um „ein körperliches Ding“ (I/238), um die Materie also, die der Gläubige in sich aufnimmt.

In Bezug auf die Taufe meint Grosse, dass die Kirche seit Jesus „eine Einheit von Eltern und Kindern“ sei, ähnlich wie das in der AT-Zeit beim Volk Israel war (I/339). Aber hier gibt es einen grundlegenden Unterschied, denn in die ntl. Gemeinde Gottes kommt man nicht durch körperliche Abstammung, sondern durch eine individuelle Entscheidung. Gemäß Grosse bringt das Taufen von Kleinkindern ein Kirchenwachstum mit sich. Allerdings sind viele nur „Taufscheinchristen“ ohne Bezug zum kirchlichen Leben. Grosse gibt an, was durch die Wassertaufe bewirkt werde, was aber bei vielen, die als Säuglinge getauft wurden, nicht erkennbar ist: Gott „entzieht durch die Taufe Menschen der Sünde und macht sie von neuem geboren“ (I/238). Es ist aber die Erfahrung vieler Christen, dass sie eine Wiedergeburt ohne zeitlichen Zusammenhang mit einer Wassertaufe erlebten, sondern in Verbindung mit ihrer Bekehrung. Diese Wiedergeburt erkennen sie an einem Vergleich des davor und danach Erlebten. Diese Erfahrung widerspricht dem von Grosse präsentierten sakramentalen Verständnis. 

Ich versuche zusammenzufassen: Die beiden Bände „gesammelter Aufsätze“ von Sven Grosse bieten punktuelle Studien zu Einzelaspekten der Dogmengeschichte. Aus der Warte eines theologisch und kirchlich konservativen Lutheraners bietet er eine gründliche Beleuchtung dieser Aspekte.


Dr. Franz Graf-Stuhlhofer BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik