Historische Theologie

James Louis Kautt: Die Schrift Contra Judaeos des syrischen Kirchenschriftstellers Bar Ṣalibi

James Louis Kautt: Die Schrift Contra Judaeos des syrischen Kirchenschriftstellers Bar Ṣalibi, Tübinger Judaistische Studien 4, Berlin: Lit-Verlag, 2021, br., 512 S., € 39,90, ISBN 978-3-643-14172-9


Dionysios Bar Ṣalibi († 1161) war als Bischof der syrisch-orthodoxen Kirche im Gebiet der heutigen Länder Türkei und Syrien mit Kirchen anderer Konfession, außerdem mit Armeniern, Juden, Kreuzfahrern und Muslimen konfrontiert. In der Auseinandersetzung mit ihnen verfasste er mehrere polemische Schriften. Über diese urteilt James Louis Kautt als Übersetzer der Schrift „Contra Judaeos“ so: „Seine polemischen Schriften könnten […] einen ähnlichen Anlass gehabt haben: Anfragen von Gläubigen seiner Kirche, die sich durch Andersgläubige herausgefordert fühlten und Antworten brauchten“ (10). Ergänzend bemerkt Kautt: „Als Anlass für Bar Ṣalibis Gegen die Juden kann wohl nicht von einem physischen Angriff seitens der Juden gegenüber den Christen in dieser Gegend die Rede sein. Jedoch kannten sicherlich Bar Ṣalibi und viele seiner syrisch-orthodoxen Mitchristen das Gefühl, von allen Seiten angefeindet zu sein […]. Dazu stellten Muslime Anfragen […], die ähnliche (aber auch andere) Vorbehalte gegenüber dem Christentum hatten wie die Juden“ (102). Bar Ṣalibi lebte am Rande des byzantinischen Reichs, in dem die Anhänger des Chalcedonense, der Lehre von der göttlichen und menschlichen Natur Christi, eine beherrschende Stellung hatten. Die syrisch-orthodoxe Kirche betont hingegen bis heute, dass in Christus das Göttliche und das Menschliche eine Natur bilden. 

Seiner Übersetzung von Contra Judaeos stellt Kautt eine ausführliche Einführung voran, in der auch auf die Übersetzungen des Werkes ins Französische (1985) und Englische (1906, 1964, 2019) eingegangen wird. Die syrisch-orthodoxe Kirche ordnet Kautt so in das Geschehen im byzantinischen Reich ein: „Da das byzantinische Reich die Einheit des Glaubens förderte und forderte, kam es aufgrund des Druckes der Staatskirche der Chalkedonenser zur aktiven Verfolgung der syrisch-orthodoxen und anderer nicht-chalkedonensischer Kirchen. Erst die islamische Eroberung im 7. Jahrhundert brachte die Befreiung von byzantinischer Unterdrückung sowie Schutz und Gleichberechtigung aller christlichen Kirchen unter muslimischer Herrschaft“ (11). Das 12. Jahrhundert, in dem Bar Ṣalibi wirkte, gehört in die Zeit der sog. „syrischen Renaissance“, von Kautt als „theologische und literarische Blütezeit“ bezeichnet, wozu Bar Ṣalibi durch seine schriftstellerische Tätigkeit beitrug (12).

Aus Kapitel 1, § 2 ein programmatischer Satz aus der Schrift des Bischofs: „…jetzt haben wir den [Punkt] einer Begegnung erreicht, d. h. wir sollen den Juden und dem Volk der Israeliten der Hebräer widersprechen. Dem Geschlecht Abrahams entsprossen, wurden [sie] durch Mose von der Knechtschaft befreit und haben die Gesetze und Gebote empfangen. Zur Zeit Josuas, des Sohnes Nuns, haben sie das Land der Verheißung geerbt. Obwohl sie stark wurden, glänzten, viel wurden, durch Zeichen und Wunder, durch Propheten, Könige, Priester und Verheißungen gestärkt wurden, wandten sie sich wieder dem Irrtum der Ungläubigen zu. Die Propheten haben sie gesteinigt und den geliebten Sohn gekreuzigt. Deswegen sind sie zerstreut worden und ihre Stadt und der Tempel wurden entwurzelt“ (zitiert 134f). Bar Ṣalibi stellt einen einfachen Tun-Ergehen-Zusammenhang her: Er erhebt einen pauschalen Vorwurf an das gesamte jüdische Volk, den Tod Jesu verschuldet zu haben. Dies sei der Grund für die Vertreibung aus dem Land der Väter.

Immer wieder tritt Bar Ṣalibi seinen fiktiven oder tatsächlichen jüdischen Adressaten mit Zitaten aus ihrer eigenen Bibel gegenüber. Einige Kostproben:

Zugunsten der Dreieinigkeit Gottes formuliert Bar Ṣalibi angesichts jüdischer Einwände so: „Wenn sie sagen: ‚Gott ist eine Person‘, argumentieren wir: ‚Wenn er [nur] eine Person ist, zu wem hat er gesprochen: ‚Lasst uns den Menschen nach unserem Bilde machen‘ (Gen 1,26) und ‚Kommt, lasst uns hinabgehen und lasst uns die Sprachen teilen‘ (Gen 11,7) und ‚der Mensch ist geworden wie einer von uns‘?‘ (Gen 3,22). Denn einer hat nicht zu sich selbst gesprochen: ‚Kommt, lasst uns machen‘, ‚Kommt, lasst uns hinabgehen‘…“ (Kapitel 2, § 8, zitiert 165f).

An jüdische Kontrahenten, die Jesus als „Betrüger“ verstanden haben, wendet sich Bar Ṣalibi mit diesen Worten: „Schaut Mose an: Obwohl er einen Ägypter getötet hat (Ex 2,12) wird er gefeiert und wurde Begleiter für seine Brüder. Elia hat die Propheten Baals getötet (1Kön 18,40) und er ist, [so] wie [es scheint], in den Himmel hinaufgestiegen (2Kön 2,11). Aber ihr, wenn ihr den ‚Betrüger‘ getötet habt, zeigt [doch], welchen Gewinn ihr von eurem Eifer erhalten habt. [Stattdessen habt ihr] die Auflösung des Königtums und des Priestertums und des Prophetentums und die Entwurzelung der Stadt und des Tempels [gewonnen]!“ (Kapitel 3, § 23, zitiert 214f).

Ein Zitat aus dem Schlusswort der gesamten Schrift: „Dabei haben wir bis hier(her) das Wort dargelegt, das gegen euch [ist], das von den Schriften [entnommen wird, die ihr besitzt]. [Oh dass] ihr zur Wahrheit umkehren würdet, obwohl eine Decke über eurem Herz liegt (s. hier 2. Kor 3,15)! Und durch die Wahrheit seid ihr nicht überzeugt, und ihr glaubt dann nicht an den Messias, wenn alle Stämme der Erde trauern, wenn sie ihn sehen, wie er [als] Richter kommt, werdet ihr [zusammen] mit den Ungläubigen an ihn glauben, wenn der Glaube euch keinen Gewinn bringt. Sondern [stattdessen] werdet ihr künftig [zusammen] mit den Ungläubigen gequält werden, die seine Güte zum Zorn gereizt haben. Aber wir Christen, die [wir] geglaubt haben, sind gerettet worden“ (Kapitel 9, § 13, zitiert 411f).

Was auffällt: An keiner Stelle nimmt Bar Ṣalibi die Kapitel 9–11 aus dem Brief des Paulus an die Christen in Rom auf. Dort bringt der Apostel sein Einerseits und sein Andererseits zum Ausdruck: dass er einerseits mit aller Dringlichkeit unter seinem eigenen Volk darum wirbt, den von den Toten auferweckten Jesus als den von Gott beglaubigten Messias zu erkennen; dass er andererseits anerkennt: Gott wird mit seinen Möglichkeiten dafür sorgen, dass Israel, sein Eigentumsvolk, schlussendlich zu dieser Erkenntnis gelangt. Dies hilft dem Apostel zur Gelassenheit im Umgang mit der ablehnenden Haltung zur Botschaft von Jesus, dem König der Juden. Worauf Bar Ṣalibi ebenso wenig Bezug nimmt, ist das versöhnte Miteinander von Juden und Nichtjuden in der einen weltweiten Gemeinde Jesu Christi gemäß Epheser 2. Anders gesagt: Bar Ṣalibi geht nicht darauf ein, dass diese Gemeinde grundsätzlich eine jüdische „Abteilung“ hat. In seinem Schlusswort urteilt James Louis Kautt: „Bar Ṣalibis Gegen die Juden, wie auch seine anderen polemischen Schriften, sind […] keine reine Schreibtischtheologie, sondern gezielte Erbauung und Stärkung für den Glauben der Mitchristen in seiner Herde als Bischof und seiner Kirche insgesamt“ (418). Worauf der Autor nicht eingeht: Bar Ṣalibis Schrift ist ein eindrückliches Beispiel für die über Jahrhunderte in der Christenheit verbreitete Ansicht, dass das jüdische Volk von der Christenheit als dem „neuen Israel“ als Volk Gottes abgelöst worden ist. Über Konfessionsgrenzen hinweg ist aber seit Jahrzehnten die Einsicht gewachsen, dass das jüdische Volk bleibend erwählt ist – was nicht im Gegensatz dazu steht, dass das Evangelium von Jesus, dem König der Juden, von Anfang an und bis heute an das Volk Israel gerichtet ist (Röm 1,16).


Pfarrer em. Martin Rösch, Schopfheim