David Schulz: Die Natur der Geschichte
David Schulz: Die Natur der Geschichte. Die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit und die Geschichtskonzeptionen zwischen Aufklärung und Moderne, Berlin: De Gruyter, 2020, geb., 368 S., € 69,95, ISBN 978-3-11-064622-1
Wer heute über Zeit und Zeiträume nachdenkt, wird ob der kaum vorstellbaren Dimensionen staunend innehalten. Im Vergleich zu den im Denkmodell des Aktualismus angenommenen Millionen bzw. Milliarden von Jahren erscheint die bisherige Menschheitsgeschichte als winzige Episode am Rande. Der US-Paläontologe Stephen Jay Gould bezeichnete diese Erkenntnis in Anlehnung an Sigmund Freuds berühmte drei Kränkungen als vierte „geologische“ Kränkung (Die Entdeckung der Tiefenzeit, München: Hanser, 1990). Der Begriff „Tiefenzeit“ bzw. „deep time“ entwickelte sich zum Grundbegriff, der diese unermesslichen Zeitdimensionen zum Ausdruck bringt.
In seiner im De Gruyter-Verlag erschienenen Studie „Die Natur der Geschichte“ untersucht David Schulz die Auswirkungen der Entdeckung der Tiefenzeit auf die Entwicklung von Geschichtskonzeptionen im Zeitraum der Aufklärung bis zur Moderne. Seine Studie wurde 2017 an der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen als Dissertation eingereicht.
Die der Studie zugrunde liegende Hypothese ist, dass die „Entdeckung der geologischen Tiefenzeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur das Selbstverständnis des Menschen, sondern auch sein Geschichtsbewusstsein radikal veränderte. Die quantitativen Dimensionen der geologischen Tiefenzeit erweiterten den Geschichtshorizont und erhöhten das Zeitbewusstsein entscheidend. Für die Herausbildung des modernen historischen Denkens, welches simultan begründet wurde, ist das ‚Durchbrechen der Zeitschranken‘ in Vergangenheit und Zukunft durch die Geologie eine der bedeutsamsten Prämissen“ (6). Die Erdwissenschaften hätten so auf entscheidende Weise das Entstehen des modernen historischen Denkens beeinflusst.
Schulz argumentiert dabei, dass die Erschütterung der chronologischen Grundlagen durch die Geologie Auswirkungen auf alle historisch arbeitenden Wissenschaften hatte, insbesondere auch auf die Geschichtsschreibung der Aufklärung sowie auf die geschichtsphilosophischen Diskurse, die sich im selben Zeitraum herausgebildet haben. Geologische Modelle, Konzepte, Begriffe, Methoden und Konventionen aus der Geschichtswissenschaft seien übernommen worden, wodurch die Geologie entscheidend zur Entstehung des modernen Geschichtsdenkens beitrug. Ihre Entdeckungen seien sowohl für die Vorgeschichte als auch für die Zukunft relevant geworden, da diese Zeiträume nicht über die menschliche Überlieferung zugänglich seien. Das moderne Geschichtsdenken könne daher als Produkt eines „Diskursraums“ betrachtet werden, der naturwissenschaftliche Fächer wie die Geologie und geisteswissenschaftliche Fächer wie die Geschichtsschreibung der Aufklärung und die Geschichtsphilosophie umfasste (6f).
Das Buch ist in drei große Teile gegliedert. In Teil I („Die Marginalisierung des Menschen durch die Entdeckung der geologischen Tiefenzeit und seine Apotheose im Anthropozän“) werden das Thema und die damit verbundene Fragestellung dargestellt. Ebenso werden Probleme der Forschung und die methodischen Vorüberlegungen dargelegt. Teil II („Die Naturalisierung der Geschichte in der Spätaufklärung“) ist der eigentliche Analyseteil der Studie und umfasst 5 Kapitel. Das erste Kapitel beinhaltet eine begriffsgeschichtliche Analyse zum Revolutionsbegriff – ein Begriff, der die große Bedeutung der Geologie für die Begriffskategorien und für die Geschichtskonzepte der Moderne beispielhaft aufzeigt. Im zweiten Kapitel wird die Rolle der Geologie in der Delegitimierung der historia sacra untersucht, wodurch die biblischen Zeitvorstellungen und -maßstäbe ihre Deutungshoheit einbüßten. Im dritten Kapitel wird der Einfluss der Geologie auf die Herausbildung geschichtsphilosophischer Entwürfe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts analysiert. Kennzeichen solcher Entwürfe ist der Versuch, Erdgeschichte und Menschengeschichte als Kontinuum zu verstehen. Im vierten Kapitel wird die Bedeutung der Geologie – und gemäß der These auch die Entdeckung der Tiefenzeit – bei der Entstehung der Weltgeschichtsschreibung untersucht. Das fünfte, den Teil II abschließende Kapitel, nimmt Entwicklungen im 19. Jahrhundert im Kontext des Historismus in den Blick: man versuchte, die Natur zu enthistorisieren bzw. zu entzeitlichen. Im abschließenden Teil III („Sind Steine die besseren Historiker? Die Geologie als Quelle moderner Zeitkonzepte“) wird der Ertrag in einer Schlussbetrachtung nochmals gewichtet.
Im Ergebnis liefert David Schulz eine nachvollziehbare Analyse. Sie baut auf einem durchdachten methodischen Vorgehen auf. Er verarbeitet dabei eine Fülle von geologischen, historiographischen und geschichtsphilosophischen Quellen aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert. Dabei wird der Gedankengang durch an wichtigen Stellen immer wieder angebrachte untersuchungsleitende Hypothesen unterstützt. In der Summe kann Schulz seine Hauptthese deshalb meines Erachtens nachvollziehbar und gut begründen.
Aus theologischer Sicht ist gerade das Kapitel über die Delegitimierung der historia sacra durch die geologische Tiefenzeit (Teil II, Kap. 2) von besonderem Interesse. Die durch die Geologie beeinflusste Geschichtsschreibung führte zu einer Trennung von Menschheitsgeschichte und Erdgeschichte. Damit wurden gängige biblische Vorstellungen über die Entstehung der Erde in Frage gestellt. Das Konzept der Tiefenzeit legte damit die Grundlage, auf der Charles Darwin mit seiner Abstammungslehre (On the Origin of Species,1859 und The Descent of Men, 1871) auch die biblische Vorstellung der Entstehung des Menschen radikal in Frage stellen konnte. Die von Schulz verarbeiteten Quellen zeigen, dass die Theologie durchaus in der Lage war, auf die geologischen Anfragen Antworten zu finden. Schulz zeigt aber auch auf, dass durch die Geologie nicht nur das Denken über Vergangenheit, sondern auch über die Zukunft bzw. Apokalypse beeinflusst wurde (Kap. 2.6). Auch wenn der Einfluss der Geologie auf die Säkularisierung der Apokalypse noch wenig erforscht sei, so dürfte die Geologie – so lautet die Hypothese von David Schulz – ebenfalls die im 17. Jahrhundert vorherrschende Auffassung eines nahen Weltendes hinterfragt und delegitimiert haben.
Mit Die Natur der Geschichte liefert David Schulz ein facettenreiches und spannendes Buch, dessen Lektüre sich lohnt und das nicht nur für Historiker und Geologen von Interesse sein dürfte. Es zeigt exemplarisch eindrücklich auf, welche Bedeutung und Auswirkung das interdisziplinäre Zusammenspiel verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen auf zeitgenössische Vorstellungen und Überzeugungen haben kann.
Dr. Dr. Beat Schweitzer, Dozent für Ethik am Theologischen Seminar St. Chrischona