Jan Mathis / Gerald Kretzschmar (Hg.): Versprochen
Jan Mathis / Gerald Kretzschmar (Hg.): Versprochen. Interdisziplinäre Zugänge zur liturgischen Sprache, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2022, Pb., 368 S., € 44,–, ISBN 978-3-374-06909-5
Eine substanzielle Analyse der sprachlichen Elemente jenseits der Predigt ist im evangelischen Kontext ein seltener Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion. Diese Wirklichkeit wird in der liturgiewissenschaftlichen Wahrnehmung bislang weitgehend übersehen, weil diese sich stark darauf fokussiert, „wie die Lehrbarkeit des Evangeliums in der Predigt verbessert werden kann“ (16). Ein kurzer Forschungsüberblick weist darauf hin, dass die Wechselwirkung zwischen dem gesprochenen Wort der Predigt und dessen Rezeption seitens der Hörer im Mittelpunkt steht, während andere Elemente der liturgischen Sprache nur selten wahrgenommen werden. Während es wichtig ist, sich mit der Predigtqualität auseinanderzusetzen, gehören zur Kommunikation des Evangeliums auch andere wichtige verbale wie auch nonverbale liturgische Aspekte. Das wechselseitige Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und den Menschen ereignet sich nicht nur im Rahmen der Predigt, sondern auch mit allen weiteren sprachlichen und zeichenhaften Elementen des Gottesdienstes. Aus diesem Grund ist es notwendig, die Rolle aller „sprachlich verfassten Elemente eines Gottesdienstes“ näher zu betrachten, um ihr kommunikatives Potenzial bewusst zu optimieren (20). Um dieses Ziel zu erreichen, benötigt es eine tiefgehende Reflexion der liturgischen Sprache, was zum Anlass diente, dass die Evangelische Predigeranstalt (Tübingen) in Kooperation mit dem Zentrum für evangelische Gottesdienst- und Predigtkultur (Wittenberg) eine fundierte Studie durchführte, um zu einer stärkeren Wahrnehmung dieser essenziellen Elemente zu verhelfen.
Der vorliegende Band dokumentiert mit 15 Beiträge das Forschungsvorhaben. Er besteht aus drei Hauptteilen. Nach einer kurzen Einleitung des Forschungsgegenstandes und der grundlegenden Motivation dieser Studie wird im ersten Teil die Komplexität der liturgischen Sprache eines spezifischen Gottesdienstes empirisch erforscht mit dem Ziel, die gewonnenen Erkenntnisse praktisch-theologisch weiterzuentwickeln, um innovative Anregungen bezüglich des enormen Potenzials der liturgischen Sprache in die Praxis umzusetzen. Eine beachtliche Stärke dieses Bandes ist der methodologisch kreative Einbezug der Wahrnehmung von Experten aus unterschiedlichen nicht-theologischen Hintergründen (Literaturwissenschaft, Theaterregie, Kommunikationswissenschaften, Rhetoriklehre usw.), welche durch ihren Außenblick die Eigenart des Gottesdienstes und der gottesdienstlichen Sprache relativ neutral betrachten konnten. Dieser Blickwinkel ermöglicht wiederum neue Einsichten und hilfreiche Perspektiven für eine verbesserte kirchliche Praxis. Im zweiten Teil werden diese außertheologisch erhobenen empirischen Daten, wie Gottesdienstbesucher die liturgische Sprache jenseits der Predigt wahrgenommen und empfunden haben, aus praktisch-theologischer Perspektive analysiert.
Meyer-Blanck zum Beispiel befasst sich mit der Rhetorik als Bezugsdisziplin der Homiletik, weist aber darauf hin, dass der Ritus, der aus Liedern, Lesungen und Gebeten besteht, gleichsam eine Kommunikationskraft aufweist, welche durch eine gezieltere Rhetorikreflexion den Gottesdienstbesuchern dazu verhelfe, bewusster am liturgischen Geschehen teilzunehmen (201). Stephan Winter profitiert auch von der empirischen Datenerhebung und sieht die Notwendigkeit, die Spannung zwischen Tradition und einer flexiblen Offenheit für eine Pluralität von Gestaltungsmöglichkeiten beizubehalten. Damit das passiert, plädiert er für die Entwicklung einer „angemessenen liturgischen Bildung wie einer geeigneten praxisbegleitenden theologischen Reflexion“ (276). David Plüss schließt sich der empirischen Wahrnehmung der Befragten an und konzentriert sich vor allem auf die Marginalisierung und Vernachlässigung der vielfältigen Aspekte der liturgischen Sprache. Dies führe dazu, dass die Lebensrealität der Gemeinde nur ungenügend bedacht wird (291). Er sieht darin die Gefahr, dass Gottesdienste zu „geschlossenen Veranstaltungen für Eingeweihte werden, wenn sie sich rhetorisch und inszenatorisch nicht auch um Verständlichkeit und Anschlussfähigkeit bemühen“ (293).
Im dritten Abschlussteil wird ein ausführliches Transkript des erforschten Gottesdienstes dieser Studie dargestellt, damit der Leser die unterschiedlichen Analysen und Deutungen besser nachvollziehen kann. Diese genaue Dokumentation des Gottesdienstes kann auch als Anregung dienen, wie ein gut durchdachter liturgischer Gottesdienst aussehen könnte. Insgesamt sind die praktisch-theologischen Bemühungen der Autoren, von der empirischen Datenerhebung Handlungsimpulse abzuleiten, äußerst hilfreich und leisten einen Beitrag, diese beachtliche liturgiewissenschaftliche Lücke zu füllen. Kritisch muss man aber erwähnen, dass die Empirie im Vordergrund steht und der Bibel ein sehr geringes Maß an normativer Orientierungskraft zugestanden wird, was zu einer mangelnden theologischen Fundierung beiträgt. Trotz dieser Kritik dient dieser Forschungsprozess als ein gelungener explorativer Auftakt für die Notwendigkeit weiterer solcher Studien. Besonders Leitungspersonen in Gemeinden, die den Gottesdienst kommunikativ gestalten wollen, inspiriert das Buch wissenschaftlich und praxisorientiert und fördert die Reflexion und Verbesserung der Gottesdienstkultur.
Dejan Azdajic, Dozent für Praktische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen