Praktische Theologie

Sonja Keller / Kristin Merle (Hg.): Evangelisch predigen

Sonja Keller / Kristin Merle (Hg.): Evangelisch predigen. Konturen homiletischer Textbezüge, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2022, Pb., 224 S., € 38–, ISBN 978-3-374-06434-2


Der Ober- und Untertitel der von Sonja Keller und Kristin Merle herausgegebenen Publikation „Evangelisch predigen. Konturen homiletischer Textbezüge“ klingt vielversprechend. Für die Herausgeberinnen ist die „für die evangelische Predigtkultur charakteristische und reklamierte intensive Auseinandersetzung mit biblischen Texten […] mit Blick auf ihre gegenwärtige theoretische Grundlegung sowie ihre praktischen Konkretionen nur unzureichend erschlossen“ (7). In der vorliegenden Arbeit wird deshalb die Frage nach der Relevanz des homiletischen Textbezugs bearbeitet. Die im Buch abgedruckten Aufsätze werden drei Themenschwerpunkten zugeordnet, die die genannte Fragestellung aus den unterschiedlichen Perspektiven der Bibelhermeneutik, des Textbezugs und der Predigtgestaltung zu beantworten versuchen.

Jürgen van Oorschot (15–27) und Oda Wischmeyer (29–43) geben eine alt- bzw. neutestamentlich-exegetische Sicht auf die Thematik vom Text zur Predigt. Beide werben für ein Zueinanderfinden von Exegese und Homiletik. Biblische Texte hätten ein „hermeneutisches Potential“ (21), das oft verkannt werde, aber homiletisch vielfältig ausgeschöpft werden könne. „Prediger und Predigerinnen tun gut daran, die Texte selbst in ihrem Kontext und in ihrem Anspruch wahrzunehmen“ (31). Frank A. Kurzmann ergänzt die beiden exegetischen Perspektiven auf den homiletischen Textbezug mit einer historischen Betrachtungsweise lutherischer Predigten der Frühen Neuzeit (45–61). Kurzmann trifft Bemerkungen zur lutherischen Schrifthermeneutik und -auslegung und würdigt das innovative und produktive Theologietreiben der damaligen Predigtpersonen, das sich an zielgruppenorientierten Predigten zeige.

In weiteren fünf Aufsätzen widmen sich Wilfried Engemann, Kristin Merle, Ulrich H. J. Körtner, Hans-Peter Großhans und Edmund Arens den Herausforderungen zeitgenössischer Predigt. Engemann gibt Einblicke in die Prämissen und Prinzipien im Umgang mit biblischen Texten (65–81). Dabei betont er, dass Predigten über das im Text Gesagte hinausgehen (müssen), um in existentialen Interpretationen Relevanz für unser Heute zu haben. Merle begibt sich auf eine homiletische Spurensuche, wenn sie der Frage nach dem „Warum“ des Predigens nachgeht (83–101). Zunächst allgemein (Predigt als Texterschließung, Religionsbildung, Anrede und Erörterung zeitgenössischer Wirklichkeit), dann spezifisch für unser Heute (Predigt als religiöse und persönliche Orientierungshilfe und gestaltete Pluralität). Körtner geht in seinen Ausführungen auf den schweren Stand der Hermeneutik und der Hermeneutischen Theologie ein (103–119). Letzteres interpretiert er gewinnbringend als eine soteriologische Deutung der Wirklichkeit, „welche deren Erlösungsbedürftigkeit im Lichte der biblisch bezeugten Erlösungswirklichkeit zur Sprache bringt“ (104). Großhans gibt einige systematisch-theologische Bemerkungen zur Predigt ab, indem er auf den dogmatischen und hermeneutischen Kontext der Predigt eingeht (121–147). Arens schließt den zweiten Teil des Buches damit ab, dass er Predigen als Praxis des Glaubens definiert (149–162): „Indem die predigende Person entlang der vorgegebenen Perikopen auf Stationen der gemeinsamen Geschichte zurückblickt, sie bedenkt und entfaltet, identifiziert sie sich selbst als Teil dieser Geschichte und schreibt sie performativ weiter“ (160). 

In den vier abschließenden Aufsätzen von Maike Schult, Sonja Keller, Lucie Panzer und Jörg Wiesel werden homiletische Gestaltungsvarianten des Schriftbezugs in der Predigt dargestellt. Schults Anmerkungen zu einer Homiletik der Verfremdung sind im homiletischen Diskurs allgemein bekannt und bereits woanders veröffentlicht und rezipiert worden (165–183). Keller gibt interessante Beobachtungen zur Praxis des Paraphrasierens, Positionierens und Aneignens weiter, wenn sie den verschiedenen Funktionen des Zitierens biblischer Texte in der Predigt nachgeht (185–199). Panzer geht in ihren Ausführungen auf die Kommunikation des Evangeliums für Radiohörerinnen und -hörer ein (201–215). Dabei hebt sie die Wichtigkeit von unterhaltsamem Erzählen von Erfahrungen hervor, in denen das Evangelium entdeckt werden kann. Das Buch schließt mit einem kurzen Beitrag von Jörg Wiesel, der den Zusammenhang zwischen Zungenrede und Predigt thematisiert (217–221).

Insgesamt stehen im vorliegenden Werk die theoretischen Grundlegungen des homiletischen Textbezugs, weniger die praktischen Konkretionen im Vordergrund. Viele der genannten Aufsätze geben anregende Sichtweisen zum Verhältnis von Bibeltext und Predigtrede weiter. Manche Überlegungen, die in den Aufsätzen wiederzufinden sind, scheinen (alt-)bekannt zu sein, weil sie bereits anderswo Aufnahme gefunden haben und daher wenig Neues zu diesem wichtigen Diskurs beitragen.


Manuel Gräßlin, Karlsruhe