Sabrina Müller / Jasmine Suhner, Transformative Homiletik
Sabrina Müller / Jasmine Suhner, Transformative Homiletik. Jenseits der Kanzel. (M)achtsam predigen in einer sich verändernden Welt, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 2023, geb., 240 S., € 28,–, ISBN 978-3-7615-6911-5
In ihrem gemeinsamen Buch „Transformative Homiletik“ geht es Sabrina Müller und Jasmine Suhner – wie es der Titel bereits verrät – um notwendige Transformationen in der Predigttheorie und -praxis. Allgemein formuliert, geht es um die Frage, „wie religiöse Kommunikation transformierend wirken kann“ (21).
Nach einer kurzen Einleitung thematisieren die Autorinnen im ersten Teil ihres Werkes das gegenwärtige Kanzelbewusstsein und äußern eine deutliche Kanzelkritik (33–77). Dazu knüpfen sie an homiletischen Entwicklungslinien an und stellen diese skizzenhaft dar. Interessanterweise lasse sich dabei „[d]as Wesen, der Stellenwert und die Ausrichtung des homiletischen Geschehens […] in weiten Teilen gut an der Kanzel ‚ablesen‘“ (48). Das klassische Kanzelbewusstsein wird dabei mit den folgenden Stichworten umschrieben: „männliches Kanzelbewusstsein“, „räumlich-definiertes und verkörpertes Kanzelbewusstsein“ und „Institutionen-ermächtigtes (mono-)konfessionelles Kanzelbewusstsein“ (49–60). Insgesamt ist für die Autorinnen das historische und aktuelle deutschsprachige Predigtgeschehen von „patriarchalischen Denk- und Handlungsstrukturen“ geprägt (61), wodurch die Kanzel als Ort und Symbol eines „religiösen Deutungsmachtanspruchs und strukturellen Sexismus und Rassismus angesehen werden muss“ (77). Die homiletischen Entwicklungslinien im US-amerikanischen Raum zeigen sich wiederum weniger einheitlich. Die dortigen Ansätze bilden zum Teil „den Nährboden, auf dem neuere feministische und postkoloniale homiletische Diskurse entstanden sind“ (71), für die sich die Verfasserinnen mit ihrer Forderung eines neuen, offeneren und fluideren Kanzelbewusstseins in Theorie und Praxis einsetzen.
Der zweite Teil des Buches eröffnet mit einem systematischen Blick auf klassische Machttheorien, um diese mit partizipativen (Hannah Arendt), feministischen (Judith Butler) und postkolonialen (Edward Said/Stuart Hall) Machtdiskursen infrage zu stellen und letztere als Potenzial für eine transformative Homiletik anzusehen (79–142). Ausgehend von den dargestellten Machttheorien mündet die Darstellung in einen machtsensiblen homiletischen Diskurs, in dem auf „die Chancen postkolonialer Denkweisen für die Homiletik anhand von Cláudio Carvalhaes und Hysran Kim-Cragg“ eingegangen wird (112). Dabei wird für eine macht- und systemkritische Homiletik von unten plädiert, die eine Pfarrerzentrierung hinter sich lässt und das Kollektiv als Ganzes in den Blick nimmt (soziales Empowerment). Weitere Aspekte des (m)achtsamen Predigens sind eine Sensibilität für Rassismus, eine Präferenz für die Armen in ihren versklavten und unterdrückten Realitäten (voices from the margins) und eine Vervielfältigung religiöser Kommunikation und des Predigens jenseits der Kanzel (vor allem durch Apps und soziale Medien).
Im dritten und letzten Teil mündet das Buch in konkrete Handlungsempfehlungen und Inspirationen (147–226). Nach der Klärung der Frage, was Transformation meint, wird eine Transformative Homiletik in der Ruach, dem Geist Gottes, verankert. Dabei wird die Ruach als raumschaffende, bewegende, feminine und gesellschaftskritische Stimme Gottes betrachtet, „die das flourishing life für alle Kreaturen unbedingt fordert“ (172). Demnach stehe die Ruach für die „kritische, unverfügbare Stimme, die nicht infolge unterdrückender Strukturen verstummt, sondern zur Transformation auffordert und inspiriert“ (172). Das Buch endet mit einigen Dimensionen zu einer transformativ-(m)achtsamen Homiletik, die (Deutungs-)Macht teilt, von religiösen Erfahrungen ausgeht, den Körper ernst nimmt, Polyphonie wagt, Gottes Reich imaginiert und zum Handeln befähigt.
Das gemeinsame Buch von Sabrina Müller und Jasmine Suhner kann als Suchprozess zu einer erneuerten Homiletik verstanden werden. Im Ganzen ist das Buch in einer gelungenen Weise theoriebildend und handlungsorientiert konzipiert worden. Die kritische Positionierung zum gegenwärtigen Kanzelbewusstsein ist in Teilen berechtigt. Die aufgezeigten Potenziale und eröffnenden Perspektiven für eine transformative Homiletik sind bedenkenswert. Meines Erachtens scheint die getroffene Annahme, „dass wir im Umbruch zu einem völlig neuen Homiletikparadigma stehen“ (35), allerdings etwas überspitzt. Vielmehr gibt das vorliegende Werk eine pneumatologische und postkoloniale Perspektive auf die Predigt und knüpft an vielen Stellen an die „New Homiletic“ der USA an. Zu würdigen ist abschließend die verlorengegangene (Wieder-)Aufnahme der Pneumatologie in die Homiletik.
Manuel Gräßlin, Karlsruhe