Praktische Theologie

Michael Klessmann: Verschwiegene Macht

Michael Klessmann: Verschwiegene Macht. Figurationen von Macht und Ohnmacht in der Kirche, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023, kt., 280 S., € 35,–, ISBN 978-3-525-60015-3


Auf die populäre Frage nach Macht und Ohnmacht der Kirche in unserer Zeit als ambivalentes Phänomen möchte Michael Klessmann einen differenzierten und transparenteren Blick bieten. Sein Ziel ist es, zu einem bewussteren Umgang in den praktischen kirchlichen Handlungsfeldern anzuregen. Dabei greift der em. Professor für Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal mit den Schwerpunkten Seelsorge, Pastoralpsychologie und Supervision in seinen Grundlagen vor allem auf soziologische Ansätze zurück. Besonders betont er dabei, neben dem im Titel genannten Begriff der „Figurationen der Macht“ (Prozesssoziologie nach Norbert Elias), auch die von Foucault als besondere Form benannte „Pastoralmacht“, die als Reflexionsreferenz durchgängig kritisch eingebracht wird.

Mit den Kapiteln 1 bis 3 als Grundlegung beginnend bildet Klessmann einen Spannungsbogen, der Konkretionen in Kapitel 4 bis 8 in praktisch-theologischen Handlungsfeldern aufzeigt und in Anregungen zu neuen Figurationen im Abschlusskapitel 9 mündet. Die Grundlegung führt neben Ambivalenzen von Macht und Ohnmacht auch Theorien und Definitionen an. Im Blick auf „das Heilige“ findet sich die Perspektive, wie kirchliche Vertreter am Heiligen und dessen Macht partizipieren. Sie seien Stellvertreter und müssten gleichzeitig verantwortlich zwischen sich und dem Heiligen unterscheiden können. In den Ausführungen zur Kirchentheorie geschieht die Reflexion auf Grundlage der drei Dimensionen von Kirche als Bewegung bzw. Gemeinschaft, Institution und Organisation. 

Die praktisch-theologischen Handlungsfelder sind auf die Schwerpunkte Pastoraltheologie (konkret: Pfarramt), Diakonik, Liturgik, Homiletik und Poimenik fokussiert. Die Überlegungen zum Amt und seinen Interaktionen mit ritueller, institutioneller und persönlicher Ausprägung schließen sich an die Grundlegungen an und sind verbunden durch den Gedanken der Hierarchie und die aktuellen Ohnmachtserfahrungen. Der Autor beschreibt darin Narzissmus und Minderwertigkeitsempfinden bei Pfarrpersonen als mögliche Machtfallen. Die spannungsvollen Dynamiken von Macht und Dienst werden in Bezug auf Diakonie deutlich: auch Dienen bleibt ambivalent mit Macht und Hierarchie verbunden. Dabei verweist der Autor auf die „Macht des Helfens“. Eine Lösung allgemein sieht er in Bezug auf Leitung im Ansatz des „Empowerments“, bei dem andere integriert und befähigt werden: Das bedeutet, sich selbst zurückzunehmen. Der kürzere Abschnitt zur Diakonik umfasst auch die medial aktuellen Themen um sexuellen Missbrauch. Es stellt sich die Frage, ob die Thematik hier eine richtige Ein- bzw. Unterordnung findet – auch in dieser Kürze. Weiter erfährt das Ritual im Bereich der Liturgik im Gottesdienst eine breite Reflexion. Es werden neben Sozialisation und Raumfragen auch die Aspekte von Gemeinschaft und auch insbesondere der stoffliche Charakter mit allen Sinnen (Klang, Gerüche, Farben, Bilder …) einbezogen und unter entwicklungspsychologischen und kommunikationspsychologischen Gesichtspunkten berücksichtigt. Klessmann plädiert in der Umsetzung für Augenhöhe und Beteiligung. Anschließend kommt die Macht der Worte im Bereich von Homiletik in den Blick und auch hier vertritt der Autor aufgrund der Deutungsmacht eine plurale Umsetzung, die sich vor allem in interaktiven Zugängen, wie z. B. dem Bibliolog zeigt. Für den Bereich Seelsorge spricht sich Klessmann für die Kraft der Begegnung aus. Für ihn kommt der Wahrnehmungsschulung in Seelsorgeausbildungen und -weiterbildungen große Bedeutung zu. Ebenso betont er die Markierung von Grenzen in der Begleitung als Schutz für beide Seiten und auch um vor Allmachtsphantasien zu bewahren.

Gegen Ende gibt Klessmann im Kapitel 9 durch Anregung zu neuen Figurationen einen Ausblick, wie die bewusste Umsetzung gelingen könnte und regt zur Perspektive des Netzwerkcharakters von Kirche an. Dabei führt er ins Feld, stärker als bisher die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden wirklich ernst zu nehmen.

Insgesamt sind die Ausführungen eine wahre Fundgrube für Konzepte und Reflexionsfolien, die zum Weiterdenken und Forschen anregen. Besonders die Definitionen von Macht in ihrer Bandbreite und die veränderte Perspektive, stärker die Interaktionsebene als die Personenebene (Eigenschaftstheorie) zu reflektieren, bieten hilfreiche Zugänge für einen sensibleren Umgang. Als eine Stärke zeigt sich, wie bekannte Konzepte auch reflektierte Aktualisierung erfahren (Bsp. „Helfer-Syndrom“, 165). Der Textfluss wird immer wieder durch Exkurse unterbrochen und mit Definitionen, Konzepterläuterungen oder Beispielen in gerahmten Kästen dargeboten (bspw. „Deutungsmacht der Religion“, S. 62). Das erleichtert ein schnelles Wiederfinden. Hilfreich erweisen sich auch die im Buch vorgenommenen Verweise zu Ausführungen zum gleichen Thema (mit Kapitel-Nummerierung). 

Auch wenn man andere theologische Standpunkte vertritt und nicht allen Deutungen folgen mag, so stellen die Ausführungen zu Macht-Figurationen für Theorie und Praxis eine unterstützende Hilfe zur Selbstreflexion dar. Der freikirchliche Bereich erfährt hier und da eine Berücksichtigung oder Erwähnung, bleibt jedoch insgesamt unterbelichtet. Ähnlich verhält es sich bei Aspekten wie „Macht von unten“ und dabei z. B. die Figuration „Familienstrukturen“ in Gemeinden, die außen vor bleiben. Einerseits geben solche Familienverbünde Halt und gewähren Integration. Andererseits können sie in gleicher Weise ausschließen und Integration verhindern. Sie können durch ihre informelle Macht auch Pastoren in Bedrängnis bringen. Vertiefende Reflexion von Gruppenphänomenen sollte hier noch stärker berücksichtigt werden (Bsp. Richtungskämpfe etc.). Denn es bleibt nicht nur die Frage, was der Hirte mit den Schafen macht, sondern auch, was die Schafe mit dem Hirten machen (ganz in der aufgegriffenen Hirtenmetapher von Foucault). Daher bleiben weitere Reflexionen wünschenswert.


Joachim Klein, Studienleiter am Theologischen Seminar Adelshofen und Supervisor