Neues Testament

Wolfgang Kraus / Michael Tilly / Axel Töllner (Hg.): Das Neue Testament – jüdisch erklärt

Wolfgang Kraus / Michael Tilly / Axel Töllner (Hg.): Das Neue Testament – jüdisch erklärt. Lutherübersetzung, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft, 2021, geb., XXXVIII+912 S., € 68,−, ISBN 978-3-438-03384-0


Dieser umfangreiche Kommentarband ist die Übersetzung eines englischen Originals, das in zweiter Auflage 2017 erschienen war (in erster Auflage 2011). Die beiden Herausgeber des Originals waren die jüdischen Gelehrten Amy-Jill Levine (Hartford, Connecticut) und Marc Zvi Brettler (Durham, North Carolina). Die drei Herausgeber der deutschen Übersetzung sind evangelische Theologen, denen der christlich-jüdische Dialog ein großes Anliegen ist.

Mehr als 600 Seiten umfassen Einleitungen und Kommentare zu den 27 NT-Schriften, danach folgen fast 300 Seiten mit über 50 „Essays“ zu vielen Einzelthemen (etwa über „Judaisierer, Judenchristen und andere“, oder „Jesus in der mittelalterlich-jüdischen Tradition“).

Für den Druck wurde leider eine kleine Schriftgröße verwendet, so wie sie sonst in Fußnoten gebräuchlich ist. Das erschwert die Lektüre. Nur der vollständig abgedruckte NT-Text in der Übersetzung Luthers steht in normaler Schriftgröße. Das Umgekehrte fände ich besser, denn einen NT-Text kann jeder Interessierte anderswo finden, dazu braucht er nicht diese Ausgabe. Der informative Thementeil („Essays“) hätte – in normaler Schriftgröße – einen eigenen 400-Seiten-Band ergeben, den man gesondert vertreiben könnte. 

Insgesamt waren etwa 80 jüdische Gelehrte beteiligt. Deren Wirkungsorte und Funktionen sind leider nicht angegeben. Wenn ich z. B. mehr über die Autorin von Einleitung und Kommentar zum JohEv wissen will, dann finde ich im Autorenverzeichnis (XXIIf) beim Namen Adele Reinhartz bloß die Angabe, dass sie den JohEv-Beitrag dieses Bandes verfasste – was ich ja ohnehin schon weiß. Bei mehreren Namen versuchte ich deren Wirkungsorte herauszufinden; demnach sind die Autoren vor allem in den USA tätig (tw. in Kanada, z. B. die eben genannte Reinhartz in Ottawa); viele hatten früher in Jerusalem studiert oder gewirkt. Ich setze den mutmaßlichen Wirkungsort in Klammern hinter den jeweiligen Namen des Autors.

Ich hoffte, in diesem Band eine auf gründliche Kenntnis der jüdischen Geschichte und Literatur des Altertums gegründete Einschätzung der Entstehung der einzelnen NT-Schriften zu lesen. Eine solche wird jedoch kaum geboten. Die Einleitungen zu den NT-Schriften basieren auf der historisch-kritischen Sicht evangelischer und katholischer Neutestamentler. Diese wird anscheinend nicht hinterfragt, und die Autoren begnügen sich mit knappen Begründungen für das jeweilige Datierungs- oder Echtheits-Urteil. Konservative Sichtweisen und ihre Argumente werden ignoriert.

Manchmal greifen die Autoren extrem skeptische Ansichten auf, wie sie in Nordamerika manchmal vertreten werden. Z. B. meint Gary Gilbert (Claremont, Kalifornien), die Apg wurde „vermutlich im frühen 2. Jahrhundert verfasst“ (233). Die Begründung dafür ist dünn: Das LkEv spiele wahrscheinlich auf die Zerstörung des Tempels an, und möglicherweise hatte der Apg-Autor Zugang zu den Schriften des Flavius Josephus, die „nach 70 abgefasst wurden“. Gilbert weiter: „Viele der Worte und Taten des Petrus, Paulus und der anderen Apostel können nicht belegt werden, und in vielen Fällen widersprechen die Informationen, die die Apostelgeschichte gibt, dem, was wir aus anderen Quellen wie den Paulusbriefen wissen.“ Hier zeigt sich eine unrealistische Erwartung, denn viele als zuverlässig eingeschätzte historische Quellen des Altertums berichten von Taten und Worten, die nicht zusätzlich durch andere Quellen zu belegen sind. Und der behauptete Widerspruch „in vielen Fällen“ ist jedenfalls weit übertrieben, denn es gibt nur einige wenige Fälle mit Diskrepanzen. Die Mitherausgeberin Levine schreibt, dass „Lukas jüdische Praktiken erläutert […] – manchmal sogar falsch (z. B. Lk 2,22)“ (116); sie bezieht sich darauf, dass Lukas nach Jesu Geburt von „ihrer Reinigung“ in der Mehrzahl schreibt, also außer an Maria noch an eine zweite Person denkt, während Lev 12 nur die Reinigung der Mutter erwähnt (123). Rainer Riesner (Jesus als Lehrer, Tübingen, 4. Auflage 2023, S. 337) verweist aber auf einen Qumran-Text (4Q265), der auch die Reinigung des Kindes vorsieht. Dieser Text legt eine gewisse Verbreitung der – dann auch bei Lukas anklingende – Idee nahe, dass neben der Mutter noch eine weitere Person eine Reinigung benötigt. Bei Levine fehlt ein Verweis auf diesen Qumran-Text jedoch.

Manche Aussagen sind sehr ungenau. Die erste Missionsreise von Paulus und Barnabas war etwa 46 n. Chr.; Claudia Setzer (Manhattan, New York) meint in ihrem Essay „Jüdische Reaktionen auf die Anhänger Jesu“, dass die Apg diese Reise „in der Zeit Jesu [also um 30 n. Chr.] angesiedelt“ habe (796), während der Bericht eher die Verhältnisse nach 70 n. Chr. widerspiegle. Das ist eine seltsame Behauptung. Diese Berichte der Apg würden laut Setzer zeigen, „wie man sich im 2. Jahrhundert u.Z. die Anfänge der Kirche vorgestellt hat“. An dieser Stelle fügen die Herausgeber der deutschen Ausgabe eine Anmerkung ein (was sie nur selten tun): Dass nämlich diese Autorin die Apg im 2.Jh. ansetzt, was „eine Minderheitenmeinung in der Forschung“ ist (800). Die Berichte der Apg, so Setzer weiter, „stellen vermutlich eine Mischung aus Erinnerung und Erfindung dar“. Gestützt auf eine solche Abwertung des historischen Werts der Apg (sowie auf Fehlinterpretationen der Paulusbriefe) kommt es dann mitunter zu schrägen Ideen, etwa in Bezug auf den Römerbrief, den Paulus an die aus Heiden- und Judenchristen bestehende Gemeinde in Rom schrieb. Mark D. Nanos (Kansas) meint jedoch, Paulus schrieb an Heidenchristen, die sich bemühen sollten, „Vollmitglieder der jüdischen Gemeinde [= Synagoge] zu sein“ (304). Die „Schwachen“ in Röm 14 bezieht Nanos auf die Juden in Rom, nicht speziell auf Judenchristen (336).

Im Zusammenhang mit der behaupteten Unechtheit der Pastoralbriefe nennt Naomi Koltun-Fromm (Haverford, Philadelphia) Beispiele für „eine Zuschreibung von Texten an vergangene Größen“, z. B. das Thomas-Evangelium (461). Dass es solche Zuschreibungs-Versuche gab, bestreitet ohnehin niemand; wichtiger wäre zu zeigen, dass falsche Zuschreibungen im Judentum oder im Christentum als akzeptabel galten. Das war wohl nicht der Fall, was eher dagegen spricht, dass unechte Schriften ins NT gelangten.

Die Kommentare beinhalten auch Bezugnahmen auf Schriften aus dem jüdischen Umfeld, etwa aus dem Talmud. Hier kommt tatsächlich jüdische Gelehrsamkeit zum Tragen. Wertvoll finde ich z. B. die Erläuterung zu Apg 1,11, wie lange ein „Sabbatweg“ ist; dazu nennt Gary Gilbert konkrete Stellen aus einer Schriftrolle vom Toten Meer sowie aus der rabbinischen Tradition (237f); das AT erklärt diese Länge nicht.

Die Angabe „jüdisch erklärt“ im Buchtitel bedeutet bloß, „von einzelnen jüdischen Theologen erklärt“. Denn die Beiträge wurden von einzelnen Autoren (oder Autoren-Duos) eigenverantwortlich verfasst. Es bleibt dabei offen, inwieweit eine hier geäußerte Ansicht der Mehrheitsmeinung der jüdischen Fachwelt entspricht.

Im Hinblick auf den christlich-jüdischen Dialog ist es wertvoll, wenn sich jüdische Gelehrte mit den NT-Schriften befassen und ihre Eindrücke festhalten, was dann von Juden und Christen gelesen – und mitunter kritisiert – werden kann. Der Dialog sollte weitergehen.


Dr. Franz Graf-Stuhlhofer BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik