Neues Testament

Nägele, Manuel: Die Bibel auslegen

Nägele, Manuel: Die Bibel auslegen. Eine Methodenlehre. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2022, Pb., 223 S., Illustrationen, € 20,−, ISBN 978-3-579-05485-8


Manuel Nägele, geb. 1991, hat von 2012−2017 in Heidelberg und Tübingen Ev. Theologie studiert, war Assistent in Tübingen (2018−2020) und wurde 2022 an der Universität Zürich im Fach Neues Testament mit summa cum laude zum Dr. theol. promoviert. Derzeit arbeitet er an seiner Habilitation zu den Wundern im lukanischen Doppelwerk.

Die Methodenlehre ist in mehrfacher Hinsicht einzigartig, denn Nägele will Studierende der Theologie und kirchliche Mitarbeiter für die wissenschaftliche Exegese gewinnen. In ihr sieht er die grundlegende theologische Kompetenz begründet, welche die Praxis bestimmt, sei es in der Vorbereitung einer Predigt, bei ethischen Entscheidungen oder generellen theologischen Diskursen (9). Aus dieser Zielgruppe ergibt sich allerdings die Konsequenz, dass Nägele die wissenschaftlichen Methodenschritte als „Einstiegshilfe“ versteht und daher ohne Kenntnisse der hebräischen und griechischen Ursprachen auskommen muss. Dennoch versucht er, seine Leser für den wertvollen Ertrag der Ursprachen zu begeistern und kann zumindest ansatzweise zu einer fundierten Exegese hinführen. Wenn im Buch die Ursprachen zitiert werden, geschieht es dreifach: mit Um- und Lautschrift sowie Übersetzung, z. B.: „retten“ (σώζω, sộzô) oder „(und) es geschah“ (ויהי [wajәhî ]/ἐγένετο [egéneto]). Auch die Art, wie die herausfordernden exegetischen Einzelschritte und Fachausdrücke mit alltäglichen Erlebnissen und bildhaften Vergleichen begründet vermittelt werden, ist nicht nur originell, sondern aus didaktischen Gründen leserorientiert gewählt. 

Dennoch will Nägele das Rad nicht neu erfinden; darum enthält seine Methodenlehre auch inhaltliche Aspekte bisheriger Methodenbücher, deren Grenzen er diskutiert und mit eigenen Schwerpunktsetzungen und Zugängen zum Alten – und Neuen Testament einsetzt. Dazu gehört etwa Frage, wie eine angemessene Exegese aussieht, die den biblischen Text verstehen will. Darüber hinaus weist Nägele auf die vielfältigen Stilarten und die Fremdheit der Texte hin, die es als historischen Text zu respektieren gilt. „Dementsprechend ist biblische Exegese eine historisch-kritische Exegese“ (15). Fragwürdig sei hier jedoch eine „hyperkritische“ Arbeitshaltung mancher Autoren, wie sie sich beispielsweise in der widersprüchlichen „Hypothesenflut“ zeigt, die sich aus der historisch-kritischen Forschung entwickelte (17). Wichtig ist Nägele, dass eine reflektierte Haltung in der methodisch-strukturierten – in diesem Sinne kritischen – Auslegung anzustreben sei, die ihre eigene Begrenztheit registriert und die weltanschaulichen und biografischen Unterströmungen gründlich überdenkt sowie transparent macht (18). Letzteres nimmt Nägele besonders ernst, indem er sich mit verschiedenen Vorverständnissen in einem eigenständigen Methodenschritt differenziert auseinandersetzt und zeigt, wie durch das subjektive Vorverständnis die weiteren Arbeitsschritte beeinflusst werden.

Angesichts der komplexen biblischen Texte aus unterschiedlichen Zeiten und von verschiedenen Verfassern, bedarf es, laut Nägele, eines „Multifunktionstool(s)“, das sich allgemein unter der Bezeichnung „historisch-kritischer Methode“ etabliert hat und in zwei Grundkategorien einteilen lässt: einer diachronen (Entstehungsprozess biblischer Texte) und einer synchronen (Arbeit an der vorliegenden Textgestalt). Doch nicht alle Methoden sind für jede Textart verwendbar. So plädiert Nägele für „gewisse Vorbehalt(e)“ gegenüber der Leistungsfähigkeit exegetischer Verfahren, um nicht einem „blinden Methodenoptimismus“ zu verfallen (21).

Der Aufbau des Buches enthält vier Leitphasen, die zusammen 11 exegetische Einzelmethoden beschreiben und anhand von Textpassagen mit konkreten Beispielen, teilweise mit Abbildungen, nachvollziehbar erklärt werden. Die Fußnoten stehen hinten im Buch, was für interessierte Leser ein mühsames Hin- und Herblättern erfordert. Jedes Kapitel beginnt mit graphisch hervorgehobenen Seitenangaben der verwendeten Methodenbücher. Sodann folgen jeweils Vorüberlegungen mit plausiblen argumentativen Anfragen zu den Grenzen der sich anschließenden exegetischen Methoden. Obwohl Nägele bestimmte Methoden in seiner Bewertung hypothetisch hinterfragt, spielt er ihre methodische Anwendung durch, so etwa die Zwei-Quellen-Theorie (Redaktionsanalyse der Markuspriorität). Und während er bei den neutestamentlichen Autoren kaum Probleme für die Anwendung der Literar- und Überlieferungsgeschichte bis zur Endredaktionen feststellt, weil die Texte handschriftlich vorliegen, weist er diesen Methoden im Alten Testament durchweg einen spekulativen Charakter zu, den die verschiedenen Rekonstruktionen der Forschung auch deutlich machen.

Mit dem akribisch-wiederholten Lesen der Bibeltexte verbindet Nägele die Methodik der Übersetzungsarbeit (28–39). Exemplarisch verdeutlicht er durch den Gebrauch typischer Bibelübersetzungen, welche die Mehrdeutigkeit der Worte widerspiegeln, dass auch eine noch so gründliche Übersetzung in der Zielsprache jedes Mal eine „interpretatorische Reduktion“ erfordert (29), denn wie Nägele in einer seiner Teilüberschriften richtig sagt: „Übersetzen heißt Interpretieren“ (28). Anschließend wird das methodische Vorgehen demonstriert, wie ohne Kenntnisse der Ursprachen eine zufriedenstellende Exegese erarbeitet werden kann. Hierzu stellt Nägele die hohe Leistungsfähigkeit der digitalen LOGOS-Bibelsoftware vor. Für diese synchrone Arbeitsweise wünscht sich Nägele eine Weiterentwicklung der wissenschaftlichen philologischen Methodik, damit die sorgfältig konzentrierte Textarbeit nicht dort stehen bleibt, sondern der wissenschaftlich-exegetischen „Königsdisziplin“ folgt, also zur systematisch-theologischen Reflexion führt. 

Neben dem bekannten Befund, dass die Texte der Bibel „im Unterschied zu anderen antiken Texten geradezu […] (in) außergewöhnliche(r) Vielzahl von Abschriften“ in Form von Fragmenten und Manuskripten überliefert vorliegen (43), enthält der Methodenschritt zur Textkritik beeindruckende Sachinformationen mit biblischen Beispielen. Die Antwort auf die häufig gestellte Frage Studierender und theologisch interessierter Laien nach dem „Urtext“ wird manche Leser verblüffen, weil es den Urtext im textkritischen Sinn nie gab (44). Zum Gebrauch der Textkritik ohne Kenntnisse der Ursprachen wird eine „abgespeckte“ Einführung zu den variantenreichen Lesarten im sog. textkritischen Apparat mit ihren speziellen Zeichen erklärt. Für die Erarbeitung im Neuen Testament wird die „textkritische Ausgabe der Elberfelder Bibel“ empfohlen. 

Den Methodenschritt zur geschichtlichen Entstehungsbedingung biblischer Texte verdeutlicht Nägele mit der textinternen (Autor, Grußlisten …) und textexternen (Edikte, Kirchenväter …) Herangehensweise. Hier arbeitet Nägele mithilfe der Einleitungsliteratur (W-Fragen: Wann? Wo? Wer? …), wobei er gleichzeitig auf die Gefährdung hinweist, sich im Dschungel der Einzelheiten zu verlieren. In seinen neutestamentlichen Einzelbeispielen nutzt Nägele mehrheitlich die paulinische Briefliteratur. Erneut sind es wieder die Hypothesen in der neu- und alttestamentlichen Wissenschaft, die eine Bewertung der erarbeiteten Indizien zum historischen Kontext erschweren. In der Frage nach dem Entstehungsort des Markusevangeliums können Studierende lernen, wie sich eine argumentativ ausgewogene Entscheidung zwischen Rom und Syrien herauskristallisiert. Auch dieser methodische Schritt, in dem anhand von Anhaltspunkten versucht wird, die geschichtlichen Hintergründe zu klären, geht „unweigerlich [mit] interpretatorische[n] Weichenstellungen einher“ (52). 

Schließlich wählt Nägele zur Datierungsfrage mit Psalm 137 einen theologisch sehr schwierigen alttestamentlichen Text aus. So werden für den Psalm zwei historische Situationen möglich: im Exil in Babylon oder in Jerusalem. Nach dem Abwägen zahlreicher Datierungsmöglichkeiten tendiert Nägele zur Exilsituation, und zwar mit einer möglichen „redaktionelle(n) Erweiterung“ innerhalb des Psalms (60). Es fragt sich, ob es hier nicht angemessener wäre, das Ergebnis im Methodenschritt der geschichtlichen Genese offen zu lassen und in der Einzelexegese zu klären (etwa mit WBC 21, 300−310), wie es Nägele selbst in seinem vorliegenden Buch methodisch an anderer Stelle vorschlägt. 

Der Methodenschritt zur Kontextanalyse fragt, in welchem größeren Zusammenhang der auszulegende Bibeltext steht. Dabei geht es um die inhaltlichen Verbindungen, wie auch um die Abgrenzungen. Beides hängt mit der vorgegebenen Einteilung des Abschnittes der jeweiligen Bibelübersetzung zusammen. Die Art und Weise, wie die Kontextanalyse durchgeführt wird und welche Ergebnisse daraus erwachsen, wird von Nägele geradezu spannend am Erzählverlauf des Kampfes am Jabbok (Gen 32,23–33) vorgestellt, wo er das Segensmotiv als „Dreh- und Angelpunkt der Erzählung“ herausarbeitet (97).

Die weiteren Methodenschritte sind ebenso aufschlussreich. Dazu gehört die sprachlich-stilistische Analyse, die beispielhaft erneut an Gen 32,23–33 expliziert wird. Identifiziert werden u. a. spezielle Wortformen, Satzverknüpfungen, rhetorische Stilmittel und Gliederungsebenen (99−119). Das Buch leistet darüber hinaus auch lehrmäßige Nachhilfe: So werden Entwicklungen „maßgebliche(r) Neuerungen“ in der exegetischen Methodenlehre dargestellt, wie etwa, dass man bei der Bestimmung von Gattungen, jetzt „nicht mehr – wie früher – von Gattungskritik, sondern von der Gattungsanalyse“ spricht (122). 

Angesichts der zahlreichen narrativen Texte in der Bibel, ist es bedeutsam, dass Nägele der relativ jungen exegetischen Methode der narrativen Analyse detaillierte Aufmerksamkeit schenkt (132−152). 

Ebenso ausführlich stellt Nägele dar, was sonst kaum in Methodenbüchern behandelt wird: die potenziellen und intendierten Wirkungen eines Textes (153−167). Befasst sich das Fach Kirchengeschichte mit den tatsächlichen Wirkungen biblischer Texte, fragt die exegetische Methode nach der eigentlichen (intendierten) Absicht des Autors. So kann es sein, dass die denkbar-möglichen (potenziellen) Wirkungen eines Bibeltextes über das hinausgehen, was der Autor eigentlich beabsichtigte (154). Für die methodische Herausarbeitung der Intention schlägt Nägele mehrfache Schritte vor: Die einfachste Art der Suche nach der Intention ist die Suche nach Imperativen, speziell in der Briefliteratur, die explizite Handlungsanweisungen als Wirkung erwarten, während in erzählenden Textpassagen eher implizite Aufforderungen enthalten sind. Nägele zeigt viele biblische Belege. Die „Analyse der Wirkstrategie“ fragt nach Arten der Empathiefähigkeit, die der Leser in den biblischen Texten, konkret bei einer „Figur“, entdeckt, einer Bezeichnung, die sonderbar distanziert klingt. Weiter wird nach „Spannungen“ und „Emotionen“ zwischen den handelnden Personen und nach deren Rhetorik gefragt. Schließlich werden die Textbeobachtungen gewichtet (156−163). Nägele nutzt das Weinberglied (Jes 5,1–7) zur illustrierenden Praxisanwendung. Der Methodenkanon endet mit der geistesgeschichtlich-soziokulturellen Analyse, die zahlreiche biblische Bezüge mit wichtigen Deutungen zur Exegese enthält (169−190).

Gesamteindruck: Die Bezeichnung des Buches als Methodenlehre gegenüber einem Methodenbuch ist korrekt gewählt, denn es bietet eine solide ausdifferenzierte Lehre zu den Ansätzen, Positionen und Prämissen aktueller Entwicklungen exegetischer Methoden sowie Sacherklärungen zu den wissenschaftlich gängigen Auslegungsmethoden. Damit verbunden sind plausible exegetische Praxisanleitungen mit zahlreichen Abbildungen. Eine weitere Stärke des Buches liegt darin, dass Nägele die Leser zur eigenständigen Reflexion anregt, einer Fähigkeit, die mit zur wegweisenden Kompetenz eines Exegeten gehört. Auffallend sind Nägeles überzeugende Vorbemerkungen vor jeder Methodenerklärung. Ohne Scheu werden hier kritisch-treffsicher etwa die Fragen nach dem historischen Jesus oder den rekonstruierten Schichten im AT in ihren Selbstwidersprüchen entlarvt. Bei allen guten Aussagen fehlt mir in der Methodenlehre eine Äußerung des Autors zur Skriptologie, die sich – theologisch gesprochen – aus der Selbstoffenbarung Gottes in den verschiedenen literarischen Darstellungen niederschlägt und von der Christologie, Christus dem Logos, her entfaltet. 

Dieses didaktisch gelungene und inhaltlich ausgewogene, aber anspruchsvolle Buch ist nicht nur eine Empfehlung für Studierende der Theologie verschiedener Bildungsgänge auf der Einsteiger- oder Fortgeschrittenenebene sowie für engagierte Hauptamtliche, welche die Fortbildung ehrenamtlicher Mitarbeiter in den Gemeinden begleiten, sondern durchaus auch eine Empfehlung für Dozenten. 

Formal: Nach dem thematisch strukturierten Literaturverzeichnis, das teilweise nicht die aktuellen Auflagen berücksichtigt, endet das Buch mit einem Belegstellen- und Sachregister. Die Methodenlehre kurz resümiert: Prädikat empfehlenswert.


Dr. Manfred Baumert, Dozent, Supervisor University of South Africa/Department of Philosophy, Practical and Systematic Theology and ISTL: International Seminary of Theology and Leadership