Neues Testament

Daniel Marguerat: Die Apostelgeschichte

Daniel Marguerat: Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022, 868 S., Hb., € 140,–, ISBN 978-3-525-56045-7


Nach den Bearbeitungen der Apostelgeschichte im renommierten Kritisch-Exegetischen Kommentar über das Neue Testament von H. A. W. Meyer (Erstauflage 1835), H.  H. Wendt (1880), E. Haenchen (1956) und J. Jervell (1998) liegt nun die Neubearbeitung durch den emeritierten Lausanner Neutestamentler Marguerat vor (insgesamt die 18. Aufl. des Acta-Bandes). Dass dies nur 25 Jahre nach der Neubearbeitung durch Jervell passiert, verwundert angesichts der bedeutend längeren Zeiten, die seit dem Erscheinen anderer Bände der Reihe und des Wartens auf andere Neubearbeitungen (etwa JohEv oder Jak) vergangen sind. Der vorliegende Kommentar ist eine leicht gekürzte Fassung (mit aktualisierter Bibliografie) der zweibändigen franz. Originalfassung (Les Actes des Apôtres (1–12), Les Actes des Apôtres (13−28), CNT 5a und 5b; Genf: Labor et Fides, 2015). Marguerat kann auf eine Reihe von Studien zur Apg zurückgreifen, etwa Lukas, der erste christliche Historiker: Eine Studie zur Apostelgeschichte (AThANT 92; Zürich, TVZ, 2011; vgl. JETh 27, 2013, 280–283) und Paul in Acts and Paul in His Letters (WUNT 310; Tübingen: Mohr Siebeck, 2013). 

Marguerat knüpft bewusst an den Bearbeitungen von Haenchen und Jervell an, zudem ist sie „zum einen vorrangig an dem für Lukas spezifischen historiographischen Entwurf interessiert ist, zum anderen thematisiert sie ausdrücklich die für den Autor wesentliche Problematik der heilsgeschichtlichen Kontinuität zwischen Israel und dem Glauben an den Messias Jesus … zudem regen … der Fortschritt der Literaturwissenschaft sowie neue Entwicklungen der Geschichtswissenschaft dazu an, das Verhältnis von Geschichte und Erzählung neu zu überdenken. Die Textuntersuchung stützt sich dabei eher auf die narrative Analyse (Synchronie) als auf die klassische Literarkritik (Diachronie)“ (7). Zu Gesamtwürdigung der Apg schreibt Marguerat: 

Lukas ist der erste, der seiner Jesusbiographie (LkEv) einen zweiten Band folgen lässt, nämlich die Apostelgeschichte, in der er die Geschichte der Bewegung darstellt, die im Anschluss an Wirken und Geschick Jesu entstanden ist. Im ganzen Verlauf der Antike wird sich nach ihm niemand mehr darauf einlassen, es nochmals zu versuchen. Unseres Wissens ist Lk auch der erste Schriftsteller der Antike, der eine religiöse Bewegung in der Form eines Geschichtswerks darstellt. Für Leser/innen der hebräischen Bibel ist es allerdings kaum verwunderlich, dass jemand die Handlungen Gottes in der Geschichte zu seinem Thema macht und von der Bildung einer Gruppe von Gläubigen erzählt, die durch diese göttliche Aktivität ins Leben gerufen wurde. Lk und sein Werk, so zeigt sich, stehen an der Schnittstelle von griechisch-römischer Kultur und jüdischer Tradition (29). 

Die Einleitung beschreibt die Apg als zweiten Band des lk. Doppelwerks (die Aufteilung des Gesamtwerks auf zwei Bücher, Stellung im Kanon, Titel), den Verfasser und seine Hörerschaft (das Bild der kirchlichen Tradition, Angaben innerhalb des Textes, die doppelte kulturelle Identität des Verfassers sowie die Apg als Erinnerungen einer paulinischen Bewegung). Nach Marguerat dient das „wir“ in Lk 1,1 „nicht der Legitimation eines Individuums, sondern einer Gruppe. … [Lk] gehört einem Evangelistenkreis an, einer paulinischen Bewegung, die die Missionstätigkeit des Paulus weiterführte und der es zugleich am Herzen lag, das Andenken des Heidenapostels zu ehren. … Als talentierter Berichterstatter und Bewahrer der Erinnerungen seiner Gruppe hat Lk die dieser Bewegung inhärente Geschichtsdeutung schriftlich festgehalten“ (33–34). Der Verfasser der Apg lässt sich im östl. Teil des Mittelmeerraums situieren; er schrieb zwischen 80 und 90 n. Chr. für eine breite Hörerschaft. Nach Überlegungen zur Struktur (35), geht es ferner knapp um die Quellen (36–38; Überlieferungen über die Apostel, die Überarbeitung der Quellen („Wie Lk die Spuren seiner Quellen verwischt“, 36–37), die Bedeutung traditioneller Elemente und der Reden als Neukompositionen des Verfassers). Von der literarischen Gattung her ist die Apg eine Ursprungserzählung (38–42). Die Erzählung verläuft „als Weg in fünf Etappen, von denen jede durch einen bestimmten Ort, eine bestimmte Zeit, ein Thema und bestimmte Hauptpersonen charakterisiert ist“ (39). Bei Parallelen zu mehreren antiken Darstellungsmodellen sprengt das lk. Doppelwerk auf jeden Fall die vorhandenen literarischen Gattungen. 

In der Apg finden sich die typischen Motive der Ursprungserzählungen: a) ein Trennungsprozess (hier: die Trennung vom Judentum); b) wiederholte Interventionen einer transzendenten Instanz (hier: Geistausgießung, Visionen u. a.); c) Legitimation der gegenwärtigen Situation durch den Rückgriff auf den Ursprung (hier besonders deutlich: Apg 28,17–31); d) eine neue Situation eröffnet eine neue geschichtliche Entwicklung (hier: das Christusgeschehen als Grund für die Universalisierung des Heils). Durch diese Erzählung der christlichen Ursprünge will Lk der Christenheit seiner Zeit zur Klärung ihrer eigenen Identität verhelfen (42). 

Der Verfasser hat seine Erzählung attraktiv gestaltet, verwendet den sog. Episodenstil und setzt in der literarischen Gestaltung drei Mittel ein, „um eine grundlegende Kontinuität zwischen dem Wirken Jesu und dem seiner Apostel zu zeigen: a) die Wiederholung von Szenarien, b) die narrativen Ketten und c) die synkrisis“ (43). Die schriftstellerischen Mittel des Autors bezeugen nicht nur ästhetisches Bemühen, sondern zeigen ebenso eine theologische Absicht. Ferner würdigt Marguerat das historiografische Vorgehen der Apg (44–46) und versteht sie als eine „Ätiologie eines ungewollten Bruches“ (45). 

Dabei ist das erkennbare Bemühen um historische Zuverlässigkeit bemerkenswert, auch wenn es nach Marguerat eher den Details gilt (46). Die theologische Zielsetzung der Apg liegt in der Stiftung von Identität (46–50; Lk als narrativer Theologe, Periodisierung der Geschichte, die unzerstörbare theologische Kontinuität zwischen Israel und der christlichen Verkündigung, das Verhältnis zwischen Juden und nicht-Juden, Unterschiede zur institutionell ausgerichteten Kirchengeschichte des Eusebius, die Betonung der Auferstehung Jesu).

Zu Beginn der Auslegung der einzelnen Abschnitte erscheinen Bibliografie (und je nach Text) eine erste Würdigung, Überlegungen zur Abgrenzung, Struktur, andere Versionen des Materials in der Apg, Stellung im Erzählverlauf, Gattung, Entstehung des Textes sowie zur Historizität und ggf. erkennbare Quellen. Am Ende bietet Marguerat jeweils eine knapp gehaltene, theologische Ertragssicherung in kleinerer Fontgröße. Zur fortlaufenden Auslegung kommen 13 Exkurse. 

Mit diesen Prämissen und in den damit aufgegriffenen Positionen der gegenwärtigen internationalen Acta-Forschung bietet Marguerat eine schlüssige Gesamtinterpretation der Apg und viele wichtige Detaileinsichten. Eine Auseinandersetzung mit anderen Perspektiven, etwa den Positionen der englischsprachigen, evangelikalen Acta-Forschung (wie sie etwa in den vier Bänden des monumentalen Acta-Kommentars von C. S. Keener, 2012–2015, geboten wird), findet kaum statt. Neben Anfragen an einige Prämissen ist zu fragen, ob diese Ausrichtung, der Paulus-Hälfte der Apg ausreichend gerecht wird, die gerade angesichts ihrer detaillierten Darstellung der Gefangennahme und Haft des Paulus noch stärker als Apologie für Paulus und die von ihm aufgenommene Jerusalemer-antiochenische Mission unter nicht-Juden her gelesen werden sollte. Ferner ist (in Anknüpfung an Jervell) zu fragen, welche deutlichere Profilierung sich ergeben würde, wenn der durch und durch frühjüdische Charakter der Apg und die Aufnahme frühjüdischer Themen und Anliegen noch deutlicher im Blick wären. 

Marguerats Neubearbeitung könnte der letzte große deutschsprachige Acta-Kommentar sein, der die deutschsprachige Acta-Forschung umfassend berücksichtigt und aufgreift. Ob es (wenn man die „Halbwertszeit“ von Jervells Bearbeitung zugrunde legt) in 25 Jahren für einen ähnlich umfangreichen Band mit dieser Ausrichtung überhaupt noch einen Markt geben wird, bleibt abzuwarten.


Prof. Christoph Stenschke, Biblisch-Theologische Akademie, Bergneustadt, Germany and Department of New Testament and Related Literature, Faculty of Theology and Religion University of Pretoria, Pretoria, South Africa