Neues Testament

Jan Heilmann: Lesen in Antike und frühem Christentum

Jan Heilmann: Lesen in Antike und frühem Christentum. Kulturgeschichtliche, philologische sowie kognitionswissenschaftliche Perspektiven und deren Bedeutung für die neutestamentliche Exegese, TANZ 66, Tübingen: Narr Francke Attempto, 2021, geb., 707 S., € 128,−, ISBN 978-3-7720-8729-5


Mit seiner 2021 erschienenen Habilitationsschrift „Lesen in Antike und frühem Christentum“ will Jan Heilmann den Grundstein für die „Etablierung eines umfassenden Forschungsfeldes“ legen, „das die Multidimensionalität des Lesens […] in der griechisch-römischen Welt und insbesondere den Leseakt selbst sowie seine spezifische Wahrnehmung in der Antike ins Zentrum des Forschungsinteresses rückt“ (484). Welch ein Mammutprojekt diese selbstgesteckte Aufgabe darstellt, wird bereits in der 76 Seiten umfassenden kritischen Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand (Kap. 1) deutlich, die die Voraussetzungen und Engführungen der bisherigen Forschung aufzeigt.

Als besonders problematisch wird dabei die weit verbreitete Annahme herausgestellt, Lesen in der griechisch-römischen Antike (und umso mehr im frühen Christentum) sei grundsätzlich als lautes Lesen konzeptualisiert worden, das primär im kollektiven Rahmen stattfand. Die Voraussetzungen, auf die sich diese Annahme gründet, werden zunächst skizziert, um dann im weiteren Verlauf der Studie immer wieder aufgegriffen und anhand der Daten hinterfragt zu werden. Ziel der von Heilmann durchgeführten Studie ist es, diesen Status quo mithilfe umfangreicher Daten aus den antiken Quellen, die durch aktuelle Erkenntnisse aus verschiedenen Referenzwissenschaften gestützt werden, zur Diskussion zu stellen und die „monosituative Verortung des Lesens“ (19) als Engführung und Vereinfachung zu entlarven, die der Selbstwahrnehmung und -beschreibung der antiken Lesepraxis in den Quellen nicht gerecht wird.

Hierzu fährt Heilmann schwere Geschütze auf: Allein für das griechische Hauptleseverb ἀναγιγνώσκω hat er mithilfe digitaler korpuslinguistischer Methoden weit mehr als 3.500 Belegstellen gesichtet (85). Für die Analyse seiner Daten etabliert er zudem eine äußerst präzise Metasprache zur kohärenten und differenzierten Klassifizierung der zu beschreibenden Leseszenen anhand der Lesesituation, der Leseweise und des Leseziels (87–94), die sich in der anschließenden Untersuchung bewährt (Kap. 1.5).

Die eigentliche Studie gliedert sich in zwei Hauptteile und beginnt mit einer umfassenden lexikologischen Untersuchung der wichtigsten Lexeme, die das Lesen im Griechischen denotieren, sowie häufig auftretender Metaphern und Metonymien, die Einblick in die antike Reflexion über den Leseprozess geben (Kap. 3). Eingeflochten werden dabei Vergleiche zwischen der griechischen und der lateinischen Leseterminologie. Diese Untersuchung bildet gewissermaßen das Rückgrat der gesamten Arbeit und ist als ihr wichtigster Beitrag zu werten. Die Fülle relevanter Belegstellen, die Heilmann aufgrund seiner Vorarbeit in seine Argumentation einfließen lassen kann, verleiht dieser das notwendige Gewicht. Er hat hier eine fast unerschöpflich erscheinende Fundgrube geschaffen, die sich als Ausgangsbasis für weitere Nachforschungen zum Thema sicherlich als höchst nützlich erweisen wird.

Mitunter wirkt die Fülle an Daten jedoch überwältigend – der Leser ist ständig herausgefordert, sich angesichts nicht ganz übersichtlicher Gedankengänge, die Vieles nur anreißen und deren Strukturierung typografisch leider nur wenig unterstützt wird, zu orientieren und zwischen Argumentationssträngen, Primärquellen und Ergebnissen zu unterscheiden. Hier zeigt sich ein generelles Problem, das es im Zusammenhang mit dem Einzug der Digital Humanities und der Verfügbarkeit großer Datenmengen für die philologische Analyse zu reflektieren gilt: Wie können die Ergebnisse aus der Untersuchung umfangreicher Textkorpora einerseits so transparent präsentiert werden, dass sowohl die methodische Vorgehensweise als auch der Erkenntnisgewinn anhand der Daten nachvollzogen und ggf. repliziert werden kann, und wie können diese Ergebnisse andererseits so kommuniziert werden, dass der Leser durch den Datendschungel geführt wird und dabei nicht den eigentlichen Argumentationsverlauf aus den Augen verliert?

Ergänzt wird die lexikologische Untersuchung der Leseterminologie durch zwei kürzere Kapitel, die der monosituativen Verortung des Lesens in der Antike weiter den Boden entziehen. Beide Kapitel sind eher als ausführliche (sehr interessante) Einschübe zu verstehen, deren Ziel weniger darin besteht, umfassend zu sein, als zu demonstrieren, dass aktuelle kognitions- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse sich mit dem aus den Quellendaten entstehenden Bild decken, wohingegen sie die Vorstellung einer Dominanz des lauten (Vor-)Lesens im kollektiven Rahmen und des Lesens als Elitenphänomen infrage stellen.

Im zweiten Hauptteil werden sodann die aus der korpuslinguistischen lexikologischen Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse über die Verwendung und Konnotation verschiedener Leseausdrücke und -metaphern auf Texte des antiken Judentums (Kap. 7) und des frühen Christentums (Kap. 8) angewendet. Hier erntet der Autor einige sehr schöne exegetische und einleitungswissenschaftliche Früchte. So kann er beispielsweise die Erwartung einer individuell-direkten Lektüre, ja sogar einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Text und Mehrfachlektüre für das Mk-Evangelium fundiert begründen. Gestützt durch seine Erkenntnisse aus der korpuslinguistischen Untersuchung verschiedener Lesemetaphern gelangt er zu einer sehr plausiblen Deutung des kurzen Mk-Schlusses als Aufforderung zur erneuten, intensiven Lektüre unter dem Vorzeichen einer christologischen Hermeneutik, die eine individuell-direkte, studierende Auseinandersetzung mit dem Text impliziert.

Bedauerlich ist m. E. folgende Tatsache: Die Beobachtungen zu den sog. Deuteropaulinen hängen völlig davon ab, dass es sich bei den Pastoralbriefen sowie Eph und Kol tatsächlich um pseudepigraphe Schriften handelt, was vom Autor vorausgesetzt wird. Andernfalls wären sämtliche Deutungsversuche im Hinblick auf intendierte Rezeptionsformen, Authentifizierungsstrategien etc. hinfällig.Das Buch schließt mit einem Rück- und Ausblick auf die Implikationen der neu gewonnenen Erkenntnisse für unser Bild der antiken griechisch-römischen Lesekultur generell, für Modelle der Entstehung, Erstrezeption und Kanonwerdung der neutestamentlichen Schriften sowie für unsere Vorstellung frühchristlicher Gemeinden und ihrer Lesekultur. Heilmann kommt zu dem Fazit: „Das Christentum war von früher Zeit an auch eine Buch-, vor allem aber eine Lesereligion“ (538). Dank der gründlichen und umfangreichen Quellenarbeit, die der Autor geleistet hat, dürfte es schwierig werden, dieses Ergebnis zu bestreiten. Heilmann kann die Vielfalt und den Facettenreichtum der antiken Lesekultur sowie das hohe Maß an Reflexion über die kognitiven Prozesse im Zusammenhang mit der Kulturtechnik „Lesen“ und praktische Lesetechniken wie Exzerpieren, diskontinuierliche Lektüre ebenso wie Stufen des Erwerbs der Lesekompetenz in den Quellen als breit bezeugt nachweisen. Im Hinblick auf andere von ihm in der Einleitung angekündigte Punkte, insbesondere was die Implikationen für Forschungsfelder der neutestamentlichen Wissenschaft wie bspw. die Kommunikationsbeziehungen zwischen Paulus und seinen Gemeinden, frühchristliche Ritualgeschichte, Kanonwerdung, etc. betrifft, (siehe seine Auflistung auf den Seiten 20–21), bleibt er eine ausführliche Abhandlung schuldig und muss sich mit exemplarischen Darstellungen begnügen.


Svenja Lueg, M.A., Doktorandin, Amsterdam