Thorsten Dietz / Norbert Schmidt (Hg.): Wort, Wahrheit, Wirklichkeit
Thorsten Dietz / Norbert Schmidt (Hg.): Wort, Wahrheit, Wirklichkeit. Beiträge zum Gespräch mit Heinzpeter Hempelmann, Gießen: Brunnen, 2015, Pb., 432 S., € 30,–, ISBN 978-3-7655-9251-5
Der Sammelband vereinigt anlässlich des 60. Geburtstags von Heinzpeter Hempelmann (H.) Beiträge von Freunden und Kollegen. Im theologischen Werk von H., der nach den Worten des Herausgebers Thorsten Dietz wie kaum ein zweiter die Entwicklung der Theologie im Raum evangelikaler und pietistischer Werke geprägt hat, lassen sich drei Schwerpunkte ausmachen: Bibel und Hermeneutik, Wahrheit und Wissenschaft, Kirche und Kultur. Nach diesen drei Themenkreisen sind auch die 18 Beiträge des Bandes angeordnet. Eingerahmt werden die Beiträge durch eine Laudatio von Ulrich Heckel (5–12) und eine Responsio von H. („Was mich bewegt: Lebenswege und Gedankenbewegungen“, 405–414). Den Abschluss bildet eine eindrucksvolle Gesamtbibliografie der Arbeiten H.s (415–434), die der Bemerkung des Laudators, der Jubilar schreibe schneller, als andere lesen können, eine gewisse Glaubwürdigkeit verleiht.
Unter der Rubrik „Bibel und Hermeneutik“ erläutert Oswald Bayer (15–22), dass Gott zwar keine Toleranz gegenüber der Sünde zeigt, dass er uns aber durch seine Toleranz – die unerhörte Barmherzigkeit, mit der er die Sünde der Welt trägt und überwindet – befähigt und auffordert, auch Toleranz zu üben. Ulrich Heckel (23–38) verweist auf die grundlegende Bedeutung der Taufe für Kirche und Theologie, während Rolf Hille (39–60) die Einsichten der Schwabenväter zur Hermeneutik der Demut für eine Theologie fruchtbar machen will, die sich als „Weisheit im Staube“ versteht. Gerhard Maier (61–65) betont, dass das Besondere an der Bibel darin liegt, dass sie das Wort des lebendigen Gottes an uns ist und dass sie eine wachsende Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen formt. Rainer Riesner (66–86) geht dem Verhältnis zwischen Essenern, Jesus und der Jerusalemer Urgemeinde nach. In einem etwas längeren Aufsatz über „Sklaverei im Alten und Neuen Testament und heute“ (87–126) begründet Thomas Schirrmacher überzeugend seine These, dass die umfangreichen Rechtsschutzbestimmungen für Knechte und Mägde im Alten Testament diese Art der Sklaverei (die man besser „Dienstknechtsarbeit“ nennen sollte) grundlegend unterscheidet von der Sklaverei in der Antike, im 15.–18. Jh. und von heutigen illegalen Formen der Sklaverei. Es sei daher kein Wunder, dass sich im Christentum der Gedanke durchsetzte, dass Gott völlig gegen diese Form der Sklaverei sei und alle Sklaven befreit werden müssten. In der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei im 18. und 19. Jh. hätten Evangelikale eine zentrale Rolle gespielt. Den Abschluss des Themenblockes bilden die Beiträge von Hans-Peter Willi (127–158), der die Bedeutung Johannes Reuchlins als Hebraisten darstellt, und von Johannes Zimmermann (159–179), der den Beitrag Julius Schniewinds zur geistlichen Erneuerung bedenkt.
Dem Themenkreis „Wahrheit und Wissenschaft“ werden vier Aufsätze zugeordnet: Martin Brändl (183–213) stellt die Arbeit des Apostels Paulus dar als ein Beispiel für gelungene Kontextualisierung des Evangeliums in neutestamentlicher Zeit. Angesichts der ausdifferenzierten Lebenswelten unserer heutigen postmodernen Gesellschaft sei für eine Kommunikation des Evangeliums eine Teilhabe an der Lebenswelt anderer erforderlich. Matthias Clausen (214–227) denkt darüber nach, wie man Pluralisten zum Glauben einlädt. Er empfiehlt dazu, den Inhalt des Bekenntnisses zu Jesus Christus zu Ende zu denken. Diese Wahrheit kann dem Vorwurf entgehen, Wahrheitsansprüche seien Machtansprüche, weil sie werbend ist, nicht zwingend, plausibel, nicht beweisbar, aufopferungsvoll, nicht herrschend. Der Beitrag von Thorsten Dietz (228–254) fällt insofern etwas aus dem Rahmen, als er den Jubilar selbst zum Gegenstand hat. Ich werde den Aufsatz daher etwas ausführlicher darstellen als die anderen Beiträge. Dietz unternimmt den faszinierenden (und erhellenden) Versuch, den Denkweg H.s anhand seiner Nietzsche-Rezeption darzustellen. Er stellt heraus, dass H.s Denken in den 1980er Jahren gekennzeichnet war von der Herausforderung der Theologie durch den Kritischen Rationalismus – eine Herausforderung, die er ausdrücklich annimmt. In dieser Phase taucht Nietzsche nur am Rande auf als Vertreter eines modernen, allzu modernen Denkens. Dies gilt auch für seine 1992 erschienene Dissertation über Karl Barth. Einen Umbruch in der Wahrnehmung Nietzsches sieht Dietz ab Mitte der 1990er Jahre. Von nun an spielt die Auseinandersetzung mit Nietzsches Diktum, dass der Mensch Wille zur Macht sei, eine wichtige Rolle im Denken H.s.. Er sieht in dieser Aussage eine säkulare Variante zu Luthers Diagnose des Menschen als in sich selbst verkrümmt, als „homo incurvatus in se ipsum“. Die Aussage, dass es der Wille zur Macht sei, der interpretiert, sieht H. als anthropologisch universal an, stellt ihm aber den christologischen Satz an die Seite: Der Wille zum Dienen interpretiert. Dietz beobachtet, dass H. in den frühen Begegnungen mit der Postmoderne diese nicht selten als Bedrohung beschrieben habe: Es wäre „absolut tödlich“ für das christliche Wahrheitszeugnis, wenn es den postmodernen Wahrheitspluralismus akzeptiere. Dagegen käme, so Dietz, in späteren Texte mehr und mehr die Einsicht zur Geltung, dass Multiperspektivität zum einen nun einmal soziale Realität sei (Milieus sind Auslegungsgemeinschaften), und zum anderen auch keine Bedrohung für die Kommunikation christlicher Wahrheit sei, sondern die Bedingung ihrer Möglichkeit universaler Geltung. Kirche muss daher milieusensibel sein. Ergänzend ließe sich hier hinzufügen, dass die Forderung H.s nach Milieusensibilität nicht zu verwechseln ist mit der Akzeptanz eines Wahrheitspluralismus. Noch in dem Aufsatz „Gemeinsam der Wahrheit etwas näher kommen“ (2012) betont er, dass Kritik, wissenschaftlicher Diskurs, aber auch wirkliche Toleranz nur möglich sei, wenn zwischen Wahrheitsansprüchen und Wahrheit unterschieden und so der gemeinsame Horizont der einen Wahrheit festgehalten wird. Volker Gäckle (255–277) gewinnt aus einer Analyse des Konflikts des Evangeliums mit der antiken Religiosität die Einsicht, dass die Verkündigung der frohen Botschaft nicht ihr eigentliches Anliegen zum Ausdruck bringen kann, wenn sie der Frage nach innerweltlicher Nützlichkeit unterworfen wird.
Im dritten Teil werden unter dem Titel „Kirche und Kultur“ sechs Aufsätze zusammengefasst: Michael Diener (281–297) sieht für die Gemeinschaftsbewegung keine Alternative zur bewussten Bejahung unserer offenen Gesellschaft. Harald Jung (298–318) plädiert dafür, den Menschen nicht nur als einen „homo oeconomicus“ zu sehen, sondern auch als einen „homo teleologicus“, der mit seinem Handeln Ziele verfolgt und damit zumindest unausgesprochen das Ganze dessen im Blick hat, was er für seine Wesensbestimmung hält. Christoph Morgner (319–342) fordert Gemeinden dazu auf, Gemeinschaft zu leben und damit modellhaft etwas von der Kultur des Evangeliums vorzuleben. Norbert Schmidt (343–358) versucht in einem englischsprachigen Aufsatz den Ansatz von Marshall MacLuhan fruchtbar zu machen für ein Verständnis der Formel „believing, behaving and belonging“, die zusammenfassen will, was Menschen in eine Gemeinde bringt. Jürgen Schuster (359–386) bedenkt missionstheologische Impulse Lesslie Newbegins: Das Evangelium müsse als öffentliche Wahrheit ins Gespräch gebracht werden, aber nicht im Paradigma der Moderne (damit wäre ein Machtanspruch verbunden), sondern als Botschaft von der Liebe Christi, als reine Liebe ohne Willen zur Macht. Peter Zimmerling (387–404) schließlich zeigt anhand von Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, dass Glaube und Freiheit zusammengehören.
Wer die für Festschriften übliche bunte Sammlung von interessanten Aufsätzen aus der Feder von Freunden und Kollegen des Jubilars sucht, wird in diesem Band fündig werden. Wer allerdings – wie der Rezensent – durch den Untertitel verleitet wird, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem theologischen Werk H.s zu erwarten, kommt nur begrenzt auf seine Kosten.
Dr. Ralph-Thomas Klein, Gymnasiallehrer AHF-Schule Gießen sowie Lehrbeauftragter Freie Theologische Hochschule Gießen
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