Johannes Unsok Ro / Benjamin D. Gifone (Hg.): Inscribe It in a Book. Scribal Practice, Cultural Memory, and the Making of the Hebrew Scriptures
Johannes Unsok Ro / Benjamin D. Gifone (Hg.): Inscribe It in a Book. Scribal Practice, Cultural Memory, and the Making of the Hebrew Scriptures, Forschungen zum Alten Testament II/139, Tübingen: Mohr Siebeck, 2022, Pb., 339 S., € 104–, ISBN 978-3-16-161524-5
Der Sammelband „Inscribe It in a Book“ greift das Thema einer „scribal culture“ sowie eines „cultural memory“ auf. Dabei wird die Frage gestellt, inwieweit bzw. in welcher Art und Weise mündliche Überlieferung verschriftlicht wurde oder ob schon sehr früh schriftliche Quellen verarbeitet wurden. Gab es (fast) von Anfang an einen umfassenden Ursprungstext oder entwickelte sich dieser, indem „Schreiber“ einen Rahmen, aber auch Inhalte hinzufügten? Dabei wird innerhalb der Wissenschaft meistens angenommen, dass die alttestamentlichen Texte durch „scribal communities“ innerhalb von oralen Kulturen entstanden (und nicht von einem einzigen Verfasser stammen). Der vorliegende Band soll einen Beitrag liefern, verschiedene Modelle der Quellen-, Redaktions- und Textkritik zu kalibrieren, aber auch zu überprüfen bzw. zu hinterfragen. Wurden Texte möglichst getreu abgeschrieben oder inwieweit wurden sie durch Schreiber erweitert, gekürzt bzw. zusammengefügt? Zudem wird der Frage nachgegangen, inwieweit in den damaligen Kulturen Schriftlichkeit außerhalb bestimmter Kreise überhaupt eine Rolle spielte.
Die insgesamt 14 Einzelartikel sind in drei Themenreihen unterteilt. Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Vergleich von Methoden von „scribal origins“ biblischer Texte. Daniel Bodi vergleicht das akkadische Wort egirtu, das Bibelaramäische ’iggrâ und das Bibelhebräische ’iggeret. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass das Wort „letter“ am besten mit „a word that has been placed“ wiedergegeben wird. W. R. Stewards Vergleich von prophetischen zeichenhaften Handlung von königlichen Texten aus Mari mit der Hebräischen Bibel (Jer 19,1–13) führt in zu dem Ergebnis, dass biblische Berichte vorexilischer Propheten vornehmlich (wenn nicht sogar ausschließlich) das Produkt nachexilischer Schreiber seien. JiSeong Kwon vergleicht das Thema „Leid des Gerechten“ in Quellen aus Ägypten, Sumer, Ugarit und Edom mit dem Buch Hiob. Der vierte Beitrag ist (für den Rezensenten) eher außergewöhnlich; Park und Ro vergleichen Platons Menexenus mit den Chronikbüchern und dabei insbesondere die Rezeption früherer Quellen, d. h. die Reden von Perikles respektive die Reden von König David.
Der zweite Teil über Schreiberpraxis in der Hebräischen Bibel beginnt mit Benjamin Kilchör zum Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Torah im Buch Deuteronomium. Dabei stellt Kilchör drei Stufen von Kommunikation fest: eine anfängliche mündliche Zuhörerschaft der Reden von Mose, ein schriftliche Kommunikation für die Elite von Priestern und Schreibern sowie eine Kommunikation für zukünftige Generationen von Laien. Fried und Mills III untersuchen die Rolle von „Esra dem Schreiber“ in Esra 7–10. Esra hatte dabei ursprünglich die Rolle eines persönlichen Beraters des Königs, die sich nach dem Verständnis des biblischen Verfassers zur Rolle als Richter und Ausleger der schriftlichen göttlichen „Tora“ entwickelt. Johanna Erzberger sieht in der Entwicklung des Charakters von Baruch dem Schreiber die Textualisierung prophetischer Autorität reflektiert; dabei vergleicht sie die unterschiedlichen Versionen von MT Jer 36 und 45 sowie LXX Jer 43 und 51,31–35. Peter Altmanns Artikel befasst sich mit den Bezügen auf „JHWHs Torah“ in den Chronikbüchern.
Der abschließende dritte Teil umfasst Fallstudien zu unterschiedlichen Themen der Hebräischen Bibel, bei denen Schreibprozesse erkennbar sind. Dabei wird deutlich, dass die Entwicklungsgeschichte einzelner Texte jeweils mit einem gewissen Grad an Sicherheit aufgezeigt werden können. In den ersten drei Artikeln geht es um den Zusammenhang von Gesetz und Narrativ. Jin Han untersucht Träume beim Deuteronomisten mit dem Fokus auf Dtn 13,1–5 und den Vorderen Propheten. Benjamin Giffone zeigt einen Konflikt zwischen der Eliageschichte und Dtn 12 auf: Wie kommt es zu einem Altar für JHWH auf dem Karmel, den Elia nicht abreißt, sondern wieder aufrichtet und verwendet, während Altäre nach Dtn 12 nur dort in Gebrauch sein sollen, wo JHWHs Name wohnt? Woo Min Lee untersucht den Begriff „Rest“, ausgehend von 2Kön 19,30f, im Hinblick auf ein „Deuteronomistic Cultural Memory“. Roger Nams Fokus liegt auf Schreiberpraxis in Neh 5,1–13. Kristin Weingart beschäftigt sich mit „Chronography“ in den Königsbüchern und dabei mit dem Problem der relativen Zahlenangaben zu den Regierungszeiten biblischer Könige und führt eine „scribal culture and substantial literature“ zurück in das späte 9. und frühe 8. Jh. v. Chr. Abschließend steht der Artikel von Benjamin Ziemer „Radical Versus Conservative? How Scribes Conventually Used Books While Writing Books“. Dabei plädiert er für die Annahme von „master scribes“, die keine bloße Reproduktion des Textes ohne Auslassung vornahmen, sondern hinzufügten, verbanden, ersetzen und anders anordneten.
Bei der Vielfalt an Themen und Untersuchungen liegt es in der Natur der Sache, dass für den Leser die einzelnen Artikel von unterschiedlicher Relevanz sein werden. Jeder Artikel weist interessante Fragestellungen auf. Für den Rezensenten war der abschließende Artikel von besonderem Interesse, da ein starker Bezug zu Ziemers Werk „Kritik des Wachstumsmodells: Die Grenzen alttestamentlicher Redaktionsgeschichte im Lichte empirischer Evidenz“ hergestellt wird. Herausragend ist m. E. Kilchörs Beitrag, da er sehr stark innerhalb des Buches Deuteronomium argumentiert und damit über die Frage vorexelisch-nachexilisch hinausgeht zu der Zeit, in der der Pentateuch spielt. Und nachdenklich stimmen die Worte Giffones, dass auf der einen Seite die meisten Texte der Hebräischen Bibel „composite works containing traditions that predate the final form of the text by several centuries“ seien, dass aber auf der anderen Seite „scholars have not reached any sort of consensus on precisely how and why the texts were shaped into their present form.“
Thomas Kinker, D.Th. (USA), Dozent für Altes Testament am Martin Bucer Seminar Bonn