Altes Testament

Stefan Kürle: Das zweite Buch Mose

Stefan Kürle: Das zweite Buch Mose, Edition C Bibelkommentar Altes Testament 4, Holzgerlingen: SCM R. Brockhaus, 2022, Hb., 371 S., € 28,–, ISBN 978-3-417-25088-6


Es ist sehr zu begrüßen, dass der Kommentar zum Exodus-Buch von Stefan Kürle nunmehr eine weitere Lücke in der Edition-C-Reihe schließt. Er ist einer der letzten unter der Herausgeberschaft von Helmuth Pehlke, der diese Reihe über Jahrzehnte betreut und vorangebracht hatte. Kürle war Dozent an der Faculdade Teológica Sul Americana in Londrina, Brasilien, und lehrt seit 2017 Biblische Theologie am Theologischen Studienzentrum Berlin, das mit der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg verbunden ist. Kürle ist ein Kenner des zweiten Mosebuchs. Bereits in seinem Dissertationsprojekt hat sich Kürle mit diesem befasst: The Appeal of Exodus. The Characters God, Moses and Israel in the Rhetoric of the Book of Exodus, 2013. Sein 2022 vorgelegter Kommentar behandelt auf rund 55 Seiten einleitende Fragen, dem ein Kommentarteil von fast 300 Seiten Umfang folgt. Der Autor beachtet in seinem Vorgehen sowohl den theologischen als auch den literarisch-ästhetischen Charakter dieses wichtigen biblischen Buches, und hält zugleich an der Historizität der in diesem Buch erzählten Ereignisse und der Vertrauenswürdigkeit dieser Schrift als Wort Gottes fest. Die Zeit der Entstehung des Exodus-Buches macht er für die Mosezeit wahrscheinlich.

Kürle sieht das Exodus-Buch als eine in sich sinnvolle und geschlossene kompositionelle Einheit. Daher geht er in seiner Auslegung der Texte zunächst immer buchimmanent vor. Erst diesem nachgeordnet nimmt er die Bezüge zu den weiteren Büchern des Pentateuchs, des alttestamentlichen Kanons und schließlich der gesamtbiblischen Überlieferung in den Blick. Eine seiner hermeneutischen Grundvoraussetzungen ist die kommunikative Absicht des Textes. Diese ermittelt er zunächst in der ursprünglichen Kommunikation zwischen dem Autor und seinen intendierten Lesern – also den Erstlesern. Auch wenn er immer wieder von „Autor“ redet – eine Festlegung in der Autorenfrage erfolgt, wenn ich recht sehe, nicht. Vielmehr weist Kürle darauf hin, dass in alttestamentlichen Schriften der konkrete Autor absichtlich in den Hintergrund tritt. Kürle gesteht aber auch die Möglichkeit zu, dass mit komplexeren Textentstehungen zu rechnen sein dürfte, was den Autorenbegriff weitet.

In seinen Beobachtungen, welche stets die Kommunikationsabsicht des Textes im Blick behalten, gibt Kürle der jeweiligen literarischen Form großes Gewicht, da diese die theologischen Inhalte in einer bestimmten Weise interpretieren und darbieten. So betont er etwa die Notwendigkeit, für die Auslegung der Gesetzes-Passagen deren narrative Einbindung einzubeziehen, was zeige, dass die regulativen Texte in richtiger Weise als freiwillige Antwort des Gottesvolkes auf die Erwählung verstanden werden wollen. Die Positionierung bestimmter Textaussagen sieht Kürle als intendiert und intentional, etwa die Stellung der Bundesbruch-Passage zwischen Ausführungsbestimmung zum Bau der Stiftshütte und Ausführungserzählung: „Das Heiligtum muss nach Kap. 32–34 als Antwort Israels auf Gottes Vergebung gelesen werden“ (358). Dies entspricht seiner Nähe zu den Präsuppositionen des close reading, welche die Kommunikation im prozessualen Vorgang des Lesens verankert: Das bisher Gelesene wirkt auf das Verständnis des später Gelesenen ein. Kürle gibt damit in seiner Auslegung der Endtextfassung eine klare Präferenz und plädiert für die Vertrauenswürdigkeit des vorliegenden Textes. Dabei sieht er zurecht zwischen den Erstlesern und den heutigen Lesern eine deutliche Differenz. So erklärt er beispielsweise vermeintliche Probleme in der Chronologie oder andere Verständnisschwierigkeiten mit einer grundsätzlich anderen Art von Denken, von Textgestaltung, Weltbild und Überzeugungen des postmodernen Lesers gegenüber dem Erstleser. Darüber hinaus erweitert er aber sein Kommunikationsmodell auf den heutigen Leser hin: „Gott soll uns begegnen können …“ (13). Damit nimmt er konsequent den heutigen Leser in die Kommunikation des Textes mit hinein.

Im Kommentarteil wird in jeden der vier ermittelten Hauptabschnitte eingeführt. Die Auslegung erfolgt sodann abschnittsweise (nicht versweise). Alle Abschnitt enthalten: die Übersetzung des Bibeltextes, Ausführungen zur Struktur, die eigentliche interpretatorische Auslegung und schließlich Anregungen zur Bibelarbeit. Sowohl die Ausführungen zur Struktur als auch zur Textinterpretation sind durchweg gehaltvoll und erhellend sowie in einer erfrischenden Sprachform dargebracht. Die homiletischen Anregungen runden die jeweiligen Abschnitte ab. Sie schlagen die Brücke vom Text zum nach-modernen Leser und bieten eine gute Grundlage für eine eigene Anwendung in der Gemeindepraxis.

Wer nach klaren Antworten auf Fragen der historischen Verortungen von Orten, Personen, oder nach vertiefter Reflexion von Autorenschaft oder Textentstehung sucht, für den ist dieser Kommentar nicht das richtige Instrument. Wer hingegen das Exodus-Buch in seiner uns überkommenen Gestalt besser verstehen und tiefer durchdringen möchte, ist mit dem Kürle-Kommentar wirklich sehr gut beraten. Für gewöhnlich liest man einen Bibelkommentar nicht kursorisch. Dieser Kommentar allerdings hat das Potential dazu. Kürle beherrscht die Kunst, reflektierte Textauslegung interessant und unkompliziert zur Darstellung zu bringen. Der Exodus-Kommentar ist in einer so feinen Art, mit so wertvollen Beobachtungen und zugleich in so verständlicher Sprache geschrieben, dass es nicht nur möglich ist, ganze Passagen flächendeckend zu lesen, sondern sogar wahrscheinlich, dass man dies auch tut, sobald man den Kommentar einmal zur Hand genommen hat.


Dr. Andreas Käser, Dozent für Altes Testament an der Theologischen Akademie Stuttgart