Altes Testament

Carolin Neuber: Israel im liminalen Raum. Das Babylonische Exil als Übergangsprozess im Ezechielbuch

Carolin Neuber: Israel im liminalen Raum. Das Babylonische Exil als Übergangsprozess im Ezechielbuch, Studies in Cultural Contexts of the Bible, Paderborn: Brill Schöningh, 2023, geb., X+267 S., € 115,89, ISBN 978-3-506-79097-2


Prof. Dr. Carolin Neuber wurde auf das akademische Jahr 2022/23 auf das Ordinariat für Altes Testament der Theologischen Fakultät Trier berufen. Ihre vorausgehende Habilitationsschrift bei Prof. Dr. Ulrich Dahmen (Freiburg i. Br.) und Prof. Dr. Franz Sedlmeier (Augsburg) ist nun in leichter Überarbeitung gedruckt worden.

Neuber prüft in ihrer Lesung des Ezechielbuchs (EB), inwiefern dieser Text in seiner gesamten Dynamik als ritueller“ Text, genauer: als „Übergangsritual“ gelesen werden kann. Darin enthalten ist insbesondere die These, dass das jüdische Exil (die Gola / Diaspora) des 6. Jh. v. Chr. als „liminale Phase“ oder „liminaler Raum“ betrachtet werden können.

Es geht also letztlich darum, ob und wie die Botschaft des EB als ein (literarischer) Prozess zu betrachten ist, und ob dieser Prozess auch in der Kategorie ritueller Prozesse gesehen werden kann.

Die Studie von Neuber widmet dieser ersten Frage gründliche und verdienstvolle Vorüberlegungen in Kap. 1: Methodische Grundlegung. Dabei sind aus literaturwissenschaftlicher Perspektive die Annahmen bedeutsam, dass Texte als semiotische Gewebe zu betrachten sind, die mit anderen kulturellen Äußerungen „multimodal“ verknüpft sind (Clifford Geertz). Auf der anderen Seite wird vor allem Jurij M. Lotmans Raumsemiotik als „Metasprache zur Beschreibung von Kultur“ (7) fruchtbar gemacht.

Für das Verständnis des EB spielt dann vor allem das Übergangsritual (rite de passage, Arnold van Gennep) und sein plausibler Dreischritt von Ablösung – Umwandlung („liminale Phase“) – Angliederung (15) eine Rolle. Das Ritualmodell ist von Victor Turner vertieft und definitorisch geklärt worden (17ff). Es lässt sich sowohl in der strukturierten Form von Ritualen finden, wie auch in der spontanen Krisenbewältigung im „sozialen Drama“ (20f). Dabei erweist sich die „liminale Phase“ als die analytisch ergiebigste Phase (21–24).

Das Modell des Übergangsrituals hat sich bei der Analyse altorientalischer Riten bereits mehrfach bewährt (35–39). Es lässt sich auch auf „nicht-rituelle Kontexte“ (also z. B. Texte / Bilder / geschichtliche Prozesse, vgl. oben „soziales Drama“) übertragen, wie bereits Turner erkannt hat (29–35). Und das Schema wurde – wie die Beispiele 40–53 zeigen – auch schon auf alt- (und neu-)testamentliche Texte angewandt. So etwa Susan Niditch auf die Ursprungsgeschichten (Chaos to Cosmos, SPHS 6, Chico/CA: Scholars, 1985) oder Casey A. Strine im Vergleich des babylonischen Mundwaschung-Rituals mit dem Ezechieltext („Imitation, Subversion, and Transformation of the Mesopotamian MīsPî Ritual in the Book of Ezekiel’s Description of Holy Space.“ In: J. Flebbe (Hg.): Holy Places in Biblical and Extrabiblical Traditions, BBB 179, Göttingen: V&R, 2016). Hier argumentiert Neuber vollständig und sauber und erschließt damit ein analytisches Instrumentarium für die alttestamentliche Exegese – aus meiner Sicht der strong point und die wichtigste Leistung dieser Promotionsarbeit.

Die Ausrichtung auf das EB beginnt 55 mit Exegetisch-methodischen Vorentscheidungen. Dazu gehören der literarisch-fiktionale Charakter des Buches (55–59), was die Aufmerksamkeit auf „Symbole und Metaphern“ rechtfertigt, und die Konzentration auf den kanonischen Text, den hebräischen Grundtext (59f).

Das Kap. 2: Spuren eines Übergangsprozesses beginnt mit einer kurzen, heuristischen Anwendung der drei Prozessphasen auf das Ezechielbuch als Ganzes (66–68). Die Ablösung (a) erweist sich dabei als nötig aufgrund der Spannung zwischen Israels Erwählung durch JHWH und seiner Abwendung von ihm. Dieser „alte Status“ muss abgelegt und neu ausgerichtet werden. Räumliche Bewegungen – „zerstreuen“, „ausziehen“ u. a. m. – zeigen die Ablösung an. Die Umwandlung in der liminalen Phase (b) „findet nach dem EB im Exil statt“, in Form von „Reinigung und Erneuerung“. Das Exil ist ein „peripherer“ Raum, bisweilen mit symbolbeladenen Begriffen wie „Ebene“ (בקעה, ausführlich 141f) oder „Wüste“ (מדבר, ausführlich 83f) bezeichnet. Darauf folgt die erneute Angliederung (c), der Eintritt in den „neuen Status“.

Unter dieser Voraussetzung analysiert Neuber nun mehrere repräsentative Textstellen des EB, so Ez 20 (Israels erneute Wüstenwanderung), Ez 8–11 (IHWHs Auszug aus Jerusalem), Ez 36,16–38 (Erneuerung Israels), Ez 37 (1–14: Neubelebung / 15–28 Angliederung) und Ez 40–48 (Tempelvision). In diesem exegetischen Teil fällt vor allem die klärende Arbeit an der Struktur des Grundtextes auf. Besonderes Augenmerk wird auf räumliche Aspekte – Orte und Bewegungen – wie auf die Periodisierung gelegt.

Wie Neuber bereits angekündigt hat, sind dabei die Betrachtungen zur „liminalen Phase“ besonders erhellend. Das Gericht etwa erhält seinen Sinn durch seine transformative Wirkung, wie die Symboliken von „Schwelle“ (Ez 9,3; 10,4), „Tor“ (10,9) und „Grenze“ (גבול; 11,10) beim Auszug JHWHs aus Jerusalem anzeigen (106ff). Gerade in den Begriffen לב „Herz“ und רוח „Geist“ (11,14ff) wird die theologische Komponente des Übergangsprozesses fassbar. Es gibt dabei auch Unschärfen – etwa zwischen Ez 11 und 20 am Punkt, wann die Transformation stattfindet (nach Ez 11 erst nach der neuen Landgabe; 119). Die rituellen Stufen überschneiden sich bisweilen auch, so „Liminalität“ und „Angliederung“ in Ez 36 (135). Neubers Beobachtung, dass in der Schlussvision (Ez 40–48), durch die weiterhin präsente „Scham“, auch im „neuen Status“ nach der Angliederung „eine liminale Qualität und Dynamik erhalten“ bleibt (205; vgl. 135), gehört zu den tiefsten und schärfsten theologischen Erkenntnissen der Arbeit!

Obwohl verdienstreich, scheint mir insgesamt die Analyse von Kap. 40–48 im Verhältnis zu den anderen Texten etwas zu breit ausgefallen zu sein. Etwas überraschend scheint mir, dass angesichts der Nähe zur Traumabewältigung die Arbeit von Dereck Daschke: City of Ruins. Mourning the Destruction of Jerusalem Through Jewish Apocalypse, Leiden: Brill, 2010, nicht erscheint.

Insgesamt ist der Text durchwegs gut lesbar, es wird exegetisch gründlich und in sauberem Aufbau argumentiert. Leserfreundlich ist die Entscheidung Neubers (68, Anm. 251), die Terminologie „Väter“ und „Söhne“ nicht zu „gendern“, sondern aus Gründen sprachlicher Konkordanz beizubehalten. Die „Arbeitsübersetzung“ der untersuchten Texte des EB (219–229), das Literaturverzeichnis (231–256), ein Sachregister (255f) und ein Bibelstellenregister (257–267) führen auch bei punktuellen Nachforschungen schnell zum Ziel.


Giancarlo Voellmy, Pfarrer in CH-Linden und Doktorand am Institut für Bibelwissenschaften der Universität Bern