Altes Testament

Walter Dietrich: Die Samuelbücher heute lesen

Walter Dietrich: Die Samuelbücher heute lesen, Zürich: TVZ-Verlag, 2022, Pb., 216 S., € 22,80, ISBN 978-3-290-18455-1


Mit dem Buch Die Samuelbücher heute lesen legt der Altmeister der Samuelforschung, Walter Dietrich, seinen „vorläufigen Abschluss einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Samuelbüchern“ (9) vor. Dietrich darf mit Recht als einer der besten Kenner der Samuelbücher bezeichnet werden. In vielfältigen eigenen Publikationen, etwa einem Band in der Reihe „Erträge der Forschung“ (Bd. 287; zusammen mit Thomas Naumann), und zuletzt mit seinem umfangreichen fünfbändigen Kommentar in der BKAT-Reihe (der fünfte Band ist noch in Bearbeitung) – um nur weniges zu nennen – hat Dietrich wesentlich zur Erforschung der Samuelbücher beigetragen. Ebenso befördert er seit vielen Jahren als einer der Herausgeber der BWANT Beiträge zu den Samuelbüchern und hat dadurch die Samuelforschung maßgeblich unterstützt.

Walter Dietrichs Buch „Die Samuelbücher heute lesen“ hat neun thematische Abschnitte: Zunächst behandelt es (1) Kontext und Inhalt, des Weiteren (2) wichtige Themen der Samuelbücher, um sich dann (3) dem Gottesbild und den handelnden Personen dieser Bücher zuzuwenden. Sodann werden (4) die Samuelbücher als Literatur betrachtet, anschließend (5) ihre Entstehung und (6) ihre textliche Überlieferung in den Blick genommen. Nach einer historisch orientierten Betrachtung dieser Bücher im geschichtlichen Horizont der frühen Königezeit (7) wendet sich Dietrich (8) der Rezeptionsgeschichte und schließlich (9) einer heutigen Lektüre dieser Bücher zu. Anhänge mit weiterführender Literatur, einer Tabelle zur Geschichte Israels, einer geographischen Übersichtskarte, sowie Auflistungen von Orten und Personen und ein Bildnachweis runden das Werk ab. In das Buch sind ein Dutzend motivlich passende Gemälde bzw. Bildausschnitte aus verschiedenen Jahrhunderten und Epochen zur Illustration eingefügt.

In seinem ersten Abschnitt zu „Kontext und Inhalt der Samuelbücher“ (1) orientiert Dietrich zunächst über die innerbiblischen und die geschichtlichen Zusammenhänge, innerhalb derer die Samuel-Erzählungen zu verorten sind. Das ist sehr prägnant und in aller Kürze gelungen. Sehr schön sind auch die Skizzen zu den Hauptpersonen der Erzählungen – Samuel, Saul und David –, sowie – in einem zweiten Durchgang – die Darstellungen ihrer wichtigsten Nebenfiguren. Die weitere Annäherung an die Samuelbücher erfolgt sodann über einen thematischen Zugriff: „Wichtige Themen der Samuelbücher“ (2). Dietrich wirft hier ein Licht auf die Bereiche Staat und Königtum, Krieg, sowie Macht und Gewalt. Auch hier gelingt es Dietrich, mit wenigen Skizzenstrichen ein anschauliches und abgerundetes Bild der altvorderorientalischen Welt zur beginnenden Königezeit in Israel zu zeichnen. Der hier gewählte Zugang, die Erzählungen zu erhellen, ist erfrischend und informativ. Die dritte Annäherung an die Samuelerzählungen von höherer Warte ist ein anthropologischer und theologischer Zugang: Gott und die Menschen in den Samuelbüchern (3). Als Themen zu den Menschenbildern werden verhandelt: Letzte werden Erste (Hanna als Urbild), Liebe und Hass, Klugheit und List. Die theologischen Aspekte, die unter „Gottesbilder“ zum Tragen kommen, sind: Der eigenwillige, ambivalente, reumütige, abweisende, hilfreiche, benutzte, barmherzige und strenge Gott. Auch hier ist die Darstellung zugleich scharfsinnig wie auch kurzweilig und erhellend.

Im nun anschließenden Teil „Die Samuelbücher als Literatur“ (4) werden die Genres Lieder, Listen, Summarien, Anekdoten, Einzelerzählungen, Erzählkränze und Novellen, schließlich die Samuelbücher insgesamt als Erzählwerk behandelt. Sodann werden sehr schön Leitwörter und -motive, Dopplungen, Chiasmen, Charakterzeichnung und Dialogführung als sprachliche Kunstmittel herausgestellt. Ein letzter Unterabschnitt widmet sich den Ambivalenzen: Undurchsichtige Charaktere, widersprüchliche Darstellungen, undurchdringliche Einzelaussagen und Ambivalenzerfahrungen – all dies spiegelt die Komplexität der Erzählstränge der Samuelbücher. Dietrich sieht dabei die Samuelbücher als Traditionsliteratur, näherhin als Ergebnis einer komplexen Überlieferung verschiedener Vorstufen in unterschiedlichen Genres und deren Bearbeitung durch viele Hände.

In einem fünften Teil (5) entwirft Dietrich nun seine diachrone Sicht zur Entstehungsgeschichte der Samuelbücher. Einen Grundstock der Erzählungen könne s. E. schon im 10. Jh. gelegt worden sein, vor allem „volkstümliches Erzählgut, noch nicht königsideologisch überformt“ (91). Eine frühe Überlieferungsbildung als Bücher wird sodann vom 10. bis zum 8. Jh. verortet, zu der schriftlich verfasste Novellen wie der Salomo-Erzählstrang und die von Dietrich später angesetzte Ladeerzählung hinzugekommen seien. Ein sog. Höfischer Erzähler habe nach dem Niedergang des Nordreiches 722 v. Chr. frühere Texte in einen von ihm neu geschaffenen Erzählgang eingebunden und sei damit zugleich Redaktor und Autor. Er greife, so Dietrich, vor allem durch neu gestaltete Dialoge interpretatorisch in altes Material ein. Ein starkes Jahrhundert später seien dann im Rahmen einer deuteronomistischen Redaktion weitere Überarbeitungsprozesse vonstatten gegangen. Drei deuteronomistische Bearbeitungsphasen werden von Dietrich skizziert. Als späte Nachträge werden das Lied der Hanna in 1Sam 2, der Davidpsalm in 2Sam 22 und Davids letzte Worte in 2Sam 23 identifiziert.

Dietrich widmet seinen nächsten Abschnitt der textlichen Überlieferung (6). Eine schöne Übersicht über die hebräische und griechische Textüberlieferung bietet eine grafische Darstellung auf S. 118. In der Diskussion einiger textkritischer Fälle werden wesentliche Beispiele ausgeführt. Abschließend lobt Dietrich das „Wunder der Texttreue“ im Überlieferungsprozess: „Es ist kaum zu fassen, wie viel Akribie und Ehrfurcht und, ja, Liebe die Abschreiber in ihre Arbeit gelegt haben“ (128). Der nächste Abschnitt wendet sich nun der Frage nach der historischen Zuverlässigkeit dessen, was die Samuelbücher erzählen, zu (7). Zunächst geht es um die Ermittlung von Jahreszahlen anhand altorientalischer Königsannalen, sodann um archäologische Daten der Flächen- und Siedlungsarchäologie, weiter um schriftliche Quellen zur frühen Königezeit (wie etwa die Tel-Dan-Inschrift), und von hier aus entwickelt Dietrich nochmals ein Bild der Zeit Sauls und Davids. Den Erzählungen der Samuelbücher wird zugestanden, zumindest einiges festgehalten zu haben, was als historisch zuverlässig einzustufen sei.

Mit dem nächsten Abschnitt gelangen wir in die vielfältige Wirkungsgeschichte der Samuelbücher (8). Der Reigen beginnt bei der innerbiblischen Rezeption des Samuelstoffes – insbesondere König David betreffend. Interessant auch die Hinweise darauf, was innerbiblisch nicht rezipiert wurde (z. B. Eli). Fortsetzung macht die antike Rezeption: jüdische Schriftsteller, Talmud und Kirchenväter. Sodann folgen Mittelalter, Reformationszeit, Barock und Moderne (letzteres besonders umfangreich). Die Ausführungen sind mit reichlich Bildmaterial zu Kunstwerken angereichert. Am Ende kommt das Buch beim heutigen Leser an: „Die Samuelbücher heute lesen“ (9). Mit Recht weist Dietrich darauf hin, dass „[d]ie Lektüre noch so guter Sekundärliteratur kein Ersatz für das Lesen der Bibel selbst sein [kann]“ (205), und versteht seine Ausführungen zu den Samuelbüchern als Lesehilfe. Wesentlich auch der Hinweis auf das Potential der Texte zur aktualisierenden Lektüre: „Es lohnt sich (…) sie darauf abzuhorchen, was sie heute über die Geschichte Gottes mit den Menschen zu sagen haben mag“ (206). Sehr schön ist die Empfehlung, die Samuelbücher langsam und genussvoll, und gerne auch gemeinsam zu lesen.

Die Lektüre von Walter Dietrichs „Die Samuelbücher heute lesen“ hat mir sehr viel Freude bereitet. Durch den multiperspektivischen Blick auf die Samuelbücher entsteht im Leser ein breites und farbiges Bild zu Form und Inhalt dieser so wesentlichen biblischen Literatur. Das Buch ist voll von erfrischenden Entdeckungen in und scharfen Beobachtungen zu den Samuelbüchern. Der in der Einleitung in Aussicht gestellte „niederschwellige“ und zugleich „wissenschaftlich verantwortbare“ Zugang zu den Texten der Samuelbücher wird von diesem schönen, überschaubaren und kurzweiligen Werk bestens eingeholt. Das Buch ist wirklich – im besten Sinne – „schön“ zu lesen, es malt lebendige Bilder vor Augen und schafft einen erfrischenden Zugang zur Literatur der Samuelbücher für den heutigen Leser.

Nicht jeder wird sich wohl in allen diachronen Zuordnungen Dietrichs wiederfinden können. Besonders hinsichtlich des Abschnitts (5) zur Entstehung der Samuelbücher würde ich nicht alle Präsuppositionen teilen. Dietrich sieht die Samuelbücher als „hervorgegangen aus unterschiedlichen Kreisen und tradiert auf vielfältigen Wegen, zusammengesetzt aus höchst verschiedenen Textarten, formuliert und redigiert von einer Vielzahl anonymer Autoren und Redaktoren“ (68). Es stimmt, selbst als synchron orientierter Exeget wird man in den Samuelbüchern eine Komposition von Texten verschiedener Hände notwendig annehmen müssen, ich wäre jedoch etwas zuversichtlicher, dass es sich um eine überschaubarere Anzahl (und nicht notwendig um eine Vielzahl) von Autoren und Bearbeitern handelt. Der Annahme, dass sich die Verschiedenartigkeit der Aspekte des Gottesbildes erstursächlich verschiedenster Autorenschaft über einen Zeitraum von Jahrhunderten schuldet (so Dietrich in Abschnitt 4), kann die Frage entgegengestellt werden, ob der Großteil der Vielschichtigkeit des Gottesbildes nicht doch auch mit der Komplexität menschlichen Gotteserlebens zusammenhängen könnte. Uneingeschränkt würde ich jedenfalls Dietrichs Votum teilen: „Nicht Menschen haben zu bestimmen, wer und wie Gott ist – nur er selbst kann dies, und er tut es auf überraschende Weise immer neu“ (65).

Ungeachtet der Frage, wie man die Diachronie der Samuelbücher genauer bestimmen mag – Dietrichs Buch ist ein kleines Schatzkästchen. Insbesondere bezüglich der synchronen Beobachtungen zu den Texten finden sich sehr viele anregende und erhellende Ausführungen in Dietrichs Buch. „Die Samuelbücher heute lesen“ ist für alle, die sich mit den Samuelbüchern beschäftigen oder sich für sie interessieren eine wirklich lohnende, eine erhellende und zugleich erfrischende Lektüre – und wärmstens empfohlen.


Dr. Andreas Käser, Dozent an der Theologischen Akademie Stuttgart