Bill T. Arnold: The Book of Deuteronomy. Chapters 1–11
Bill T. Arnold: The Book of Deuteronomy. Chapters 1–11, NICOT, Grand Rapids/MI: Eerdmans, 2022, geb., xli+660 S., $ 60.00, ISBN 978-0-8028-2170-6
Bill T. Arnold eröffnet mit diesem ersten Teilband zum Deuteronomium eine zweite Generation des Deuteronomiumkommentars der NICOT Reihe (New International Commentary on the Old Testament), deren Mitherausgeber er seit 2020 ist. Der kompakte Vorgängerkommentar von Peter C. Craigie (1976, 424 Seiten) hat ein halbes Jahrhundert lang vielen Theologen und Studenten, die das Profil der NICOT Reihe schätzen, kirchlich und wissenschaftlich gute Dienste getan (und wird es weiterhin tun). Dass allein der erste Teilband zu Dtn 1–11 mit 660 Seiten deutlich umfassender ist als der gesamte Vorgängerkommentar, zeigt, wie gründlich und gehaltvoll der neue Kommentar ist. Bill Arnold hat schon viele Beiträge nicht zur zum Dtn, sondern auch zu Gen und zur Umwelt des Alten Testaments, vorgelegt und von diesem Horizont profitiert auch dieser Kommentar.
Die Einleitung in den Kommentar macht rund 90 Seiten aus. Sie beginnt mit der Frage nach dem Charakter des Dtn und betont, dass dieses nicht einfach ein Gesetzesbuch ist, sondern eine katechetische, verkündigende Gestalt hat. In dieser Dimension wird auch „Tora“ verstanden. Ein erster historischer Horizont des Buches sind die Ebenen Moabs, wobei das Buch sofort mit einer Rückblende zur vorhergehenden Generation beginnt und an den Fuß des Horeb führt, bevor es den Blick auf die Spitze des Horeb und die Offenbarung Gottes richtet. Der Blick zurück verbindet sich aber mit einem Blick voraus, denn die Unterweisung kommender Generationen ist ein zentrales Anliegen des Buches. Danach wird die Einheit der Komposition untersucht, wobei das System von Ansageformeln, die besondere Sprache des Dtn, und die Klimax des Deuteronomiums mit der Verschriftung der Tora als Buch innerhalb des Buches (J.-P. Sonnet) besonders im Fokus sind. Unabhängig von der Kompositionsgeschichte des Dtn betont Arnold dessen kompositionelle Integrität.
Zur Frage nach Verfasserschaft und Datierung gibt Arnold einen kurzen Abriss der Forschungsgeschichte (der leider nicht mit de Wette, sondern mit Graf-Wellhausen beginnt und damit die Frage der josianischen Datierung des Deuteronomiums weitgehend ausklammert), um dann sein Verständnis des Deuteronomiums als „Stimme des Mose“ darzulegen. Das Dtn versteht er als Wachstumsliteratur, die Selbstdarstellung als Mosereden ziele nicht auf mosaische Verfasserschaft, sondern auf einen Überlieferungs- und Aktualisierungsprozess, in dem Schreiber im mosaischen Geiste den alten Inhalt der Überlieferung (traditum) immer wieder für ihre Zeit aktualisiert haben (traditio). So erklinge die Stimme des Mose in jeder Generation neu durch die aktualisierende, überarbeitende, verkündigende und lehrende Arbeit der Schreiber. Arnold vermutet, dass alte Traditionen in der Hiskiazeit gesammelt wurden und das Dtn dann in der Manassezeit als Oppositionsliteratur erste Gestalt gewonnen hat, inspiriert durch das Bundesbuch (Ex 20,22–23,33), die Verkündigung der Propheten des 8. Jh. (v. a. Hosea) und die Reformen Hiskias. In dieser Gestalt wurde es dann unter Josia wieder entdeckt und später erweitert, u. a. durch die Einführung Dtn 1–3, die als Einführung ins Dtn, nicht ins DtrG geschrieben wurde. Der wichtigste Entstehenskontext des Dtn ist dann neuassyrisch (8./7. Jh.). Dass das Dtn Vertragsstrukturen enthält, die ihre nächste Parallele in Hethitischen Verträgen des 2. Jt. haben, ist nach Arnold damit zu erklären, dass diese durch neuhethitische Staaten im 1. Jt. vermittelt seien. Verbindungen sieht er auch zu den neuassyrischen Verträgen/Loyalitätseiden, wobei er es offenlässt, ob das Dtn direkt vom Nachfolgeeid Asarhaddons (EST) beeinflusst sei, oder ob die viel diskutierte inhaltliche Nähe zu EST v. a. im Bereich der Flüche (Dtn 13 und 28) Teil einer breiteren nordwestsemitischen Fluchtradition im Kontext der neuassyrischen Zeit sei.
Weiter bespricht Arnold den Platz des Dtn im alttestamentlichen Kanon und die sog. Kanonformel (Dtn 4,2; 12,32), die er stärker als Aufforderung zum Gehorsam versteht denn als an die Schreiber gerichtetes Verbot, den Text zu ändern, auch wenn das Dtn wie der ganze Pentateuch verhältnismäßig früh eine stabile Textgestalt gewonnen habe. Es folgen Erläuterungen zur Textgrundlage. Die LXX zeigt keine signifikanten Abweichungen vom MT und ist „konservativ“ übersetzt. Im Licht der Rollen vom Toten Meer behandelt er den MT aber dennoch als Textzeugen wie jeden anderen, so dass textkritische Entscheidungen von Fall zu Fall getroffen werden und LXX und SP gleichberechtigt neben MT stehen.
Ausführlich wird dann die Theologie des Dtn, auch in ihrem Einfluss auf die ganze Bibel, unter den Überschriften „Offenbarung“, „Der Gott Israels“ und „Das Israel Gottes“ dargestellt, bevor Schlüsselthemen (Tora, Bund, Prophetie, ausgleichende Gerechtigkeit, Zentralisation, Erziehung, Individualismus, Krieg, Exil, Armut) eingeführt werden. Ein Gesamtüberblick über die Struktur des Deuteronomiums schließt die Einleitung ab.
Der eigentliche Kommentar, die Hauptsache des Buches, kann hier nur kurz angesprochen werden: Er ist in jeder Hinsicht gründlich (textkritisch, philologisch, historisch, theologisch), kennt nicht nur die angelsächsische, sondern auch die europäische (bes. die deutschsprachige) Forschungsliteratur und enthält damit auch dann, wenn man sich selber schon vertieft mit dem Deuteronomium beschäftigt hat, immer wieder neue Einsichten und Anregungen. Es ist somit ein Kommentar, den ich immer wieder zur Hand nehmen werde. Insgesamt (schon bei den Einleitungsfragen) ist Arnold eher vorsichtig mit voreiligen Schlussfolgerungen, sehr abwägend und stellt oft mehrere Möglichkeiten nebeneinander, ohne sich für eine zu entscheiden. Das ist als wissenschaftliche Tugend zu würdigen, auch wenn man sich ab und zu klarere Positionierungen wünschen würde. Der angenommene Entstehungskontext (8./7. Jh.) spielt für die Textauslegung eine erstaunlich geringe Rolle und scheint nicht sehr viel zum Textverständnis beizutragen (die narrative Situation des Dtn ist eindeutig die bestimmende Verstehensvoraussetzung). Der Kommentar enthält vier Exkurse (zu den Zehn Geboten, dem Sabbat, dem Schma Jisrael und dem Gebot der Gottesliebe im Schma) und gibt damit den theologisch und wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Texten der ersten elf Kapitel ein besonderes Gewicht und eine besondere Tiefe.
Auf den zweiten Teilband kann man sich freuen, wenn aus den geplanten zwei plötzlich drei Teilbände werden, würde es auch nicht überraschen.
Prof. Dr. Benjamin Kilchör, Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel