Eckhard J. Schnabel: New Testament Theology
Eckhard J. Schnabel: New Testament Theology, Grand Rapids: Baker Academic, 2023, 1176 S., $ 48,99, ISBN 978-1-5409-6311-6
Eckhard Schnabel, Professor emeritus für Neues Testament am Gordon-Conwell Theological Seminary, ist deutschsprachigen Evangelikalen nicht unbekannt als Historiker des frühen Christentums (Urchristliche Mission) und als Exeget (Kommentar zum 1. Korintherbrief und zum Römerbrief in der HTA-Reihe). Nun ergänzt er diese beachtlichen Leistungen durch eine umfangreiche neutestamentliche Theologie. Sein Werk ist in sechs Teile gegliedert: 1. History, Faith, and Theology, 2. The Proclamation of Jesus, 3. The Proclamation of the Jerusalem Apostles, 4. The Proclamation of Paul, 5. The Consolidation of the Apostolic Mission, und 6. The Message of the New Testament. Eine ausführliche Bibliografie und umfangreiche Verzeichnisse runden den Band ab.
Die mehrfache Betonung auf „Proclamation“ in den Kapitelüberschriften ist nicht zufällig; Schnabel ist nämlich überzeugt, dass die Schriften des NT nicht als theologische Abhandlungen konzipiert sind, sondern im Dienst der Mission und Verkündigung stehen. Das Werk ist trotz seines für Laien abschreckenden Umfangs auch keine akademische NT-Theologie. Schnabel verzichtet auf Fußnoten zugunsten von kurzen Literaturangaben in Klammern und setzt sich selten mit von ihm divergierenden Ansichten auseinander – zumindest explizit; wer sich in der Fachliteratur auskennt, merkt, dass er im ständigen Gespräch mit einem breiten Spektrum an evangelikalen und kritischen sowie angelsächsischen und deutschen Forschern befindet.
Es ist nicht möglich bei einem so ausführlichen Band, dem der Rezensent nach den ihm auferlegten Vorgaben nur ein Wort pro Seite widmen darf, eine tiefgründige Analyse des Inhaltes zu bieten. Der Leser muss sich mit kurzen Eindrücken begnügen. Ich beginne mit Schnabels Ansatz. Für ihn besteht die Einheit der neutestamentlichen Schriften in der Verkündigung des Evangeliums von Jesus dem Messias als Herrn. Die Kontextbezogenheit dieser Schriften lässt aus seiner Sicht eine nähere thematische Beschränkung dieser Einheit nicht zu. Deswegen argumentiert Schnabel, dass man bei der Analyse der theologischen Inhalte der einzelnen neutestamentlichen Schriften die jeweiligen Publika, an die sie gerichtet sind, stärker berücksichtigen muss, als dies manche Abhandlungen vor ihm tun. Denn die Autoren der neutestamentlichen Schriften sprechen in sehr unterschiedliche Situationen hinein und formulieren ihre Texte – und ihre Theologie – in Bezug auf den jeweiligen Kontext.
Dieser moderat leserorientierte Ansatz erscheint mir angebracht, auch wenn dabei die Einschränkungen des „mirror reading“ nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Schnabel meint es jedenfalls damit ernst. Am Ende seiner Ausführungen zu verschiedenen Aspekten der Verkündigung der Jerusalemer Apostel und Paulus stellt er sich vor, wie fiktive, verschiedene Lesertypen darstellende Personen auf die Botschaft reagieren – Ahi, ein Pharisäer aus Tiberias, Bacchios, ein Fischhändler aus Ephesus, Onesime, eine Sklavin, etc. Es liegt auf der Hand, dass dieser Reflexionsmechanismus kein objektives Bild der realen Leser liefern kann. Schnabels Vorstellungen von den Reaktionen der verschiedenen Typen wirken zudem hier und dort etwas banale oder überspitzt, aber er versucht hier etwas Neues, und der Versuch ist auf jeden Fall zu würdigen. In der Regel dienen seine Charakterskizzen befriedigend dem Zweck, für den sie gedacht sind: Sie zwingen moderne Leser dazu, sich in die Gedankenwelt der Erstleser hineinzuversetzen und erinnern sie daran, dass jene Menschen je nach ihrer Lebenslage sehr unterschiedlich auf die neutestamentlichen Schriften reagiert haben werden. Dafür, dass Schnabel diesen hilfreichen Ansatz nur auf die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe und nicht auf die Evangelien, den Hebräerbrief und die Johannesoffenbarung anwendet, gibt er keine Erklärung. Schade, dass er ihn nicht überall angewandt hat.
Der Aufbau des Bandes ist, wenn nicht verwirrend, dann auf jeden Fall gewöhnungsbedürftig. Man sucht zunächst vergeblich im Inhaltsverzeichnis nach einem Teil, der den katholischen Briefen gewidmet ist. Erst ein bisschen Herumblättern im Buch macht klar, dass sich Schnabel für eine unkonventionelle Vorgehensweise entschieden hat. Die Petrusbriefe, der Jakobusbrief und der Judasbrief werden im dritten Teil (The Proclamation of the Jerusalem Apostles) behandelt. Das hat den Vorteil, dass Schnabels begrüßenswerte Frühdatierung der Briefe des Jakobus und Judas sowie seine Verteidigung ihrer Abfassung von Petrus und den Herrenbrüdern theologisch fruchtbar werden. Die Johannesbriefe und die Offenbarung sowie der Hebräerbrief, dessen Autor Schnabel den „Prediger“ nennt, werden dann erst im fünften Teil (The Consolidation of the Apostolic Mission) behandelt. Es ist alles da, aber eine Erklärung im Vorwort hätte mir den kurzen Anflug von Angst, ich werde frühzeitig dement, erspart.
Leser von Rezensionen zu biblischen Theologien wollen wissen, welchen gesamttheologischen Eindruck ein Werk hinterlässt. Schnabel geht von einem konservativen Schriftverständnis aus und meidet es, eine hermeneutische Mitte des NT zu suchen, um die sich die jeweiligen Texte verorten lassen, ob nahe an der Mitte oder weiter weg davon. Weiter steht er Entwürfen, die die neutestamentliche Theologie anhand eines Metanarrativs darstellen, skeptisch gegenüber, insbesondere bei Paulus (s. 334). Obwohl Vorsicht in dieser Hinsicht geboten ist, kommt niemand, der von einer einheitlichen biblischen Theologie ausgeht, ganz ohne Metanarrative aus. Wer es versucht, läuft Gefahr, die vereinenden Elemente der neutestamentlichen Theologie in den Hintergrund rücken zu lassen, mit dem Resultat, dass seine Darstellung einer Auflistung verschiedener Theologumena gleichkommt. Wer dieses Resultat vermeiden will, muss bestimmte Aspekte der gesamtbiblischen Narrative betonen, und de facto tut es auch Schnabel. Seine empfehlenswerte Darstellung der paulinischen Gesetzeslehre und Soteriologie schöpfen zum Beispiel eindeutig aus einer reformatorischen Erzähllinie, die sich im Laufe seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit biblischen Texten in seinem Hinterkopf, wo sich Metanarrative für gewöhnlich aufhalten, festgesetzt hat. Durch die Offenlegung der metanarrativen Komponente seiner Theologie würde diese Darstellung meiner Meinung nach nur noch stärker werden.
Neben diesem Abschnitt, den ich in Zukunft bestimmt noch konsultieren werde, stechen auch Schnabels Behandlung der Geburtsnarrative Jesu sowie seines Gerichtsprozesses und Kreuzestodes durch ihre klare und präzise Auslegung hervor. Schwächer hingegen fallen seine Ausführungen zur Johannesoffenbarung aus. Hier wirkt seine Entscheidung, dieses Schreiben zusammen mit der johanneischen Literatur zu behandeln, nach. Das lässt zwar viele übereinstimmende Momente stärker hervortreten, hat aber den Nachteil, dass am Ende nicht klar ist, welchen Beitrag die Offenbarung zu einer gesamtbiblischen Theologie macht. Auch seine Besprechungen der Wiederkunft Jesu bei Paulus (465–468) und das letzte Kapitel (Joyful Expectation: Life and Death, the Return of Jesus, and Eternal Life) lassen zu wünschen übrig. Der Eindruck entsteht, dass sich Schnabel, wie manche andere in der lutherischen Tradition stehenden Theologen, damit schwertut, den letzten Akt der heilgeschichtlichen Narrative in seine neutestamentliche Theologie zu integrieren.
Ganz hervorragend finde ich den letzten Teil des Werks (The Message of the New Testament). Jedes der Themen, die er aufgreift (außer zur „Joyful Expectation“; siehe dazu oben), schließt mit einer Besprechung seiner zeitgenössischen Relevanz ab. Zum Beispiel machen Schnabels Ausführungen deutlich, dass wir es bei Paulus nicht bloß mit einer „impliziten“ oder „inspirierenden“ Ethik zu tun haben, sondern dass der Apostel ganz oft und direkt Handlungsforderungen aus seiner Theologie ableitet und seinen Gemeinden geltend macht. Wer diesen Teil liest, kommt auf den Geschmack, neutestamentliche Theologie nicht nur als akademische Disziplin zu betreiben, sondern sie für die Gemeinde zu erschließen.
Prof. Dr. Joel White, Freie Theologische Hochschule Gießen