Hansjörg Hemminger: Evangelikal
Hansjörg Hemminger: Evangelikal. Von Gotteskindern und Rechthabern, Gießen: Brunnen, 2016, Pb., 240 S., € 15,–, ISBN 978-3-7655-2049-5
Der ehemalige Weltanschauungsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Württemberg hat ein Buch über die evangelikale Bewegung vorgelegt, dass erklärtermaßen kein Fachbuch sein will, sondern ein persönliches Buch, in dem Sachinformationen „von eigenen Eindrücken und Meinungen begleitet“ werden (7). Anders gesagt handelt es sich um die Außenwahrnehmung eines – nach Einschätzung des Rezensenten – freundlich-kritischen Beobachters, der sich seinem Forschungsgegenstand durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung aus der Perspektive eines landeskirchlichen Lutheraners annähert.
Das Buch gliedert sich in drei Hauptteile, die durch die fiktive Geschichte von einem Wissenschaftler, der den „Stamm der Evangelikalen“ erforschen möchte, verbunden sind. Die kurzen Intermezzi, in denen der Leser diesem Wissenschaftler begegnet, scheinen in der Sache wenig auszutragen; vermutlich sollen sie den populären Charakter des Buches unterstreichen. Freilich sind sie eine Form der indirekten Kommunikation des Autors.
Im ersten Hauptteil wird die evangelikale Bewegung in ihrer historisch gewachsenen Vielfalt und in den sie verbindenden Anliegen vorgestellt. Es folgt ein Teil zu Grundüberzeugungen der Evangelikalen und schließlich eine Analyse ausgewählter Konfliktfelder für Evangelikale heute. Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass der (evangelikale) Leser eine für das geistliche Leben in Deutschland wichtige Bewegung besser kennenlernt, in kritisch-konstruktiver Weise zur (Selbst-)Reflexion herausgefordert wird und – in einer Reihe von Passagen – einiges über die Positionierungen des Verfassers erfährt.
Beginnen wir mit den informativen Aspekten des Buches. Der Verfasser arbeitet (in Teil I) in gut verständlicher Weise die historisch-theologischen Bedingungen heraus, die zur Entstehung zunächst der Allianz-, dann der pfingstlich-charismatischen und schließlich der Bekenntnisevangelikalen führte (wie der Verfasser sie im Anschluss an eine in der deutschsprachigen Diskussion verbreitete Typologie nennt). Er arbeitet überzeugend heraus, dass die evangelikale Bewegung sich von ihrem Ursprungsimpuls her dem Zeitgeist und dem theologischen Rationalismus mit einem Bekenntnis zum übernatürlichen Charakter der Bibel und zu Gottes Eingreifen in der Geschichte entgegenstellte. In diesem Zusammenhang wird das Verhältnis der Evangelikalen zur wissenschaftlichen Bibelauslegung erfreulich differenziert erläutert. Laut Hemminger widersetzten sich ihre gelehrten Vertreter nicht einer methodisch kontrollierten Auslegung der biblischen Texte, sondern vielmehr der „Mischung aus aufgeklärter Dogmatik, naivem Spekulieren und mangelnder Einsicht in die Möglichkeiten und Grenzen der historischen Erkenntnis“ (38). Wenn, wie der Verfasser anmerkt, in der evangelikalen Kritik des historisch-kritischen Arbeitens an der Bibel die Methode einerseits und ihre weltanschaulichen Voraussetzungen andererseits nicht immer klar unterschieden wurden, dann spiegelt dieser Umstand m. E. letztlich die auch in der „modernen“ Theologie mangelnde Reflexion auf die weltanschauliche „Imprägnierung“ der eigenen Forschungsergebnisse wieder. Differenziert wird auch das Verhältnis der Evangelikalen zur Theologie als Wissenschaft beschrieben. Nach Hemminger gibt es diesbezüglich bis heute keine einheitliche Position. Neben der Ablehnung jedweder universitärer Theologie finde sich das Bemühen um akademisch-theologisches Arbeiten auf der Basis evangelikaler Grundüberzeugungen. Allerdings werde die Theologie, wie sie seit der Aufklärung an den Universitäten betrieben wird, von den Evangelikalen als Quelle von Religionskritik und Unglaube überbewertet. Denn die Säkularisierung sei Folge eines tiefgreifenden Paradigmenwechsels hin zum „homo oeconomicus“, was die Axt an die Wurzel eines religiösen Weltverständnisses überhaupt gelegt (und auch die Theologie betroffen) habe. Zugleich erkennt der Verfasser an, dass ein nur unzureichend reflektierter Vernunftoptimismus der akademischen Theologie der evangelikalen Kritik durchaus Vorschub geleistet habe. Insgesamt wird deutlich, dass der Verfasser der Bewegung durchaus mit einer Grundsympathie begegnet, die – auch das wird deutlich – vor allem dem pietistischen Moment der Pflege einer lebendigen Gottesbeziehung gilt.
Andere Aspekte sieht Hemminger demgegenüber kritischer und einige der von ihm ausgeführten Beobachtungen werden mit Sicherheit zur Diskussion herausfordern. So zeigt der Verfasser im historischen Teil, dass die Evangelische Allianz sich als Verteidiger des überlieferten christlichen Glaubens in reformatorischer Gestalt sah, dabei aber eine Reihe von theologischen Akzentverschiebungen vornahm. Zum Beispiel bekenne sich die Evangelische Allianz zur „völligen Sündhaftigkeit und Schuld des gefallenen Menschen, die ihn Gottes Zorn und Verdammnis aussetzen“ (20) – eine Überzeugung, die in der Glaubensbasis der Allianz „Bekenntnisrang“ erhalte und dem „Wortlaut nach“ meine, dass im Menschen nichts Gutes wohne (vgl. 89). Diese Einschätzung aber widerspreche jeder Lebenserfahrung und Seelsorge. Wenn man freilich bedenkt, dass die von Hemminger bevorzugte Interpretation bis in den Wortlaut hinein an Röm 7,18 erinnert, dann wäre es besser zu fragen, was diese Aussage im Kontext der paulinischen und dann auch der evangelikalen Theologie genau meint, anstatt ihr pauschal zu unterstellen, lebensfern zu sein. Zudem kommt die Glaubensbasis nur an wenigen Punkten dem lutherischen Bekenntnis so nahe wie in diesem Artikel, lehrt doch das Luthertum nach Confessio Augustana Art. II, dass alle Menschen „von mutter leibe an voller böser lust und neigung sind und keine ware Gottes forcht, keine ware Gottes lieb, keinen waren glauben an Gott von natur haben können“ (BSELK 94,19f–95,1). Historisch unzutreffend ist, die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz als „Bekenntnis“ zu bezeichnen, wurde diese Deutung doch bereits 1846 in einem Anhang zur Glaubensbasis explizit ausgeschlossen (vgl. H. Hauzenberger, Einheit auf evangelischer Grundlage, 1986, 455f). Hemmingers – für einen Lutheraner wohl naheliegende – Deutung der Basis als Bekenntnis lässt sich im Übrigen nur schwer in Einklang bringen mit seiner zutreffenden wiederholt geäußerten Beobachtung, dass die evangelikale Bewegung sehr heterogen sei und es bei zentralen Grundüberzeugungen wie dem Schriftverständnis erhebliche innerevangelikale Spannungen gebe.
Die Analysen des dritten Hauptteils sind m. E. die für eine weitergehende Diskussion anregendsten Passagen des Buches, denn hier fragt der Verfasser nach der Identität der evangelikalen Bewegung und ihrer Selbstverortung in der heutigen pluralistischen Gesellschaft. Die spannendste These des Buches zur evangelikalen Bewegung lautet, dass das „eher geringe Gewicht der gemeinsamen, inhaltlichen Überzeugungen […] die Gefahr mit sich [bringt], dass die Abgrenzung nach außen ein problematisches Übergewicht erhält“ (161). Für eine emotional positiv besetzte Identitätsbildung fehlten einfach die Einheit stiftenden „Erinnerungsorte“, was nicht von der Hand zu weisen ist, wenn man bedenkt, dass Allianz-, pfingstlich-charismatische und Bekenntnisevangelikale, was ihre eigentlich identitätsstiftenden Programmformate und prägende Persönlichkeiten angeht, weithin eigenständig agieren. Der Schulterschluss wird am ehesten sichtbar, wenn Abgrenzung nach außen demonstriert werden soll (was heute überwiegend bei ethischen Fragen der Fall ist).
Der Verfasser hebt weiter hervor, dass Evangelikale landauf, landab, häufig Hervorragendes leisteten, wenn es darum geht, aus ihrem lebendigen Glauben heraus Verantwortung in Kirche und Gesellschaft zu übernehmen. Sobald sie sich jedoch mit Kritik von außen auseinander zu setzen hätten, würde diese Stärke verblassen. H. spricht in diesem Zusammenhang von einem „überkompensatorischen Kampf“ (163), was bedeutet, dass auf Missstände reagiert wird, die tatsächlich vorhanden sind, dies aber „unangemessen“ geschieht und somit keine Abhilfe schafft (ebd.). So bedenkenswert diese Analyse scheint, so unglücklich wirkt die Entscheidung, diese These an der Auseinandersetzung zwischen Michael Diener und Ulrich Parzany über die Mitarbeit homosexueller Menschen in evangelikalen Gemeinden zu illustrieren. Die Interpretation dieser Debatte scheint mir doch sehr von der Parteinahme für Michael Diener her und einer zeitlichen Nähe zum Ereignis bestimmt, die der kritischen Analyse eher abträglich ist. Mit etwas größerem Abstand würde vielleicht deutlich werden, dass es hier nicht in erster Linie um einen Konflikt zwischen zwei Personen geht, wie es in diesem Buch den Anschein hat.
Damit sind wir abschließend bei dem, was der Leser über die in allen diesen Beobachtungen leitenden Überzeugungen des Verfasser erfährt. Als Naturwissenschaftler und theologisch geschulter Weltanschauungsbeauftragter ist Hemminger in vielen Grundsatzfragen gut orientiert und hinreichend reflektiert, um den Evangelikalen immer wieder gegenüber ungerechtfertigten Vorwürfen beizustehen. So zeigt sich der Verfasser in der für die Entstehung der Bekenntnisbewegung wichtigen Diskussion um Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm als engagierter Kritiker einer Theologie, die – wie das laut Hemminger bei Bultmann der Fall war – von einem naiven, im Kern „provinziellen“ Vertrauen in die Selbstverständlichkeit und Endgültigkeit des eigenen Weltbildes beherrscht war, anstatt erkenntniskritisch Grund und Grenzen des eigenen Arbeitens zu reflektieren. Die Absolutsetzung des eigenen Weltbildes sei „skurril“, mit Sicherheit aber nicht wissenschaftlich. Als überzeugter landeskirchlicher Lutheraner erweist sich Hemminger, wenn er den Ruf zur Bekehrung bzw. Lebensübergabe als Ausdruck eines neuzeitlichen Individualismus sieht, der – und erst das scheint mir die wenig überzeugende Pointe dieser Kritik – die Praxis der Säuglingstaufe infrage stelle, die mit Hinweis auf die „oikos“-Formel im Neuen Testament verteidigt wird. Dem Verfasser will auch nicht einleuchten, warum Evangelikale (v.a. freikirchliche!) die Christianisierung der Völker Europas durch Zwangsmittel kritisch sehen. Dieser Vorgang erscheint hier in einem irritierend milden Licht. Die „Schuldgeschichte“ evangelikaler Missionswerke etc. erhält (zu Recht) ihren eigenen Abschnitt, die Verfolgung und Vertreibung von Glaubens-Dissentern im sog. christlichen Abendland dagegen wird nicht einmal erwähnt – obwohl sie definitiv zur Identitätsbildung der Evangelikalen beigetragen hat (vgl. Niklas Luhmann zur „Exklusionsidentität“). Beim Biologen Hemminger findet auch die evangelikale Kritik an der Evolutionstheorie besondere Aufmerksamkeit (vgl. auch H. Hemminger, Und Gott schuf Darwins Welt, 2009). Hier entsteht gelegentlich der Eindruck, als sei jede Form von Kritik an Evolutionsprinzipien mit der Zustimmung zum Kurzzeit-Kreationismus gleichzusetzen (vor allem in der „Zusammenfassung“, 209f). Das aber ist nicht der Fall (wie der Verfasser am Beispiel von John Lennox korrekterweise auch zugesteht) und war in der Auseinandersetzung der Erweckten mit dem Darwinismus seit den 1860er Jahren nie so (wie S. Holthaus gezeigt hat; vgl. Fundamentalismus in Deutschland, 22003, 326–372). Was Evangelikale bewegt, ist die gefühlte „Bedrohung des christlichen Glaubens durch das ‚wissenschaftliche Weltbild‘ und durch die autonome, natürliche Vernunft“ (207). Was das für die Beurteilung der Evolutionstheorie bedeutet, scheint mir im Blick auf alle drei Typen der evangelikalen Bewegung viel offener als hier dargestellt und im Übrigen proportional weit weniger evangelikale Christen zu beschäftigen als das z.B. in den USA der Fall ist.
Fazit: Dieses gut lesbare Buch vermittelt eine von kritischer Sympathie getragene Außenwahrnehmung der vielgestaltigen evangelikalen Bewegung, die als geistliche Erneuerungs- und neuzeitliche Protestbewegung ernst genommen wird. Insbesondere die Überlegungen zur (dem Verfasser zufolge schwach ausgeprägten) Identität der Evangelikalen laden zum Nachdenken und kritischer Selbstreflexion ein. In einigen Punkten, an denen der Verfasser erkennbar von seiner Identität als landeskirchlicher Lutheraner bestimmt ist, wird man Widerspruch üben müssen. Exemplarisch verweise ich auf den am Ende geäußerten Ratschlag, dass die Evangelikalen um des eigenen Überlebens willen zu einer höheren Akzeptanz der Institution Landeskirche finden mögen. Dass dies tatsächlich der Schlüssel in die Zukunft ist, scheint mir allerdings zum Mindesten fragwürdig.
Prof. Dr. Christoph Raedel, Professor für Systematische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen
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