Historische Theologie

Paul Peucker: Herrnhut 1722–1732. Entstehung und Entwicklung einer philadelphischen Gemeinschaft

Paul Peucker: Herrnhut 1722–1732. Entstehung und Entwicklung einer philadelphischen Gemeinschaft, AGP 67, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, geb., 343 S., € 55,–, ISBN 978-3-525-50357-7


Rechtzeitig zum 300jährigen Ortsjubiläum von Herrnhut hat Paul Peucker eine Monographie vorgelegt, in der er den Nachweis zu führen versucht, dass das frühe Herrnhut eine philadelphische Gemeinschaft war, ja, mehr noch: dass dieser Gedanke auch für die Ekklesiologie des älteren Zinzendorf prägend blieb und damit das Selbstverständnis der mittlerweile weltweiten Brüdergemeine mit Siedlungen auf allen damals bekannten Kontinenten bestimmte. Der Autor war von 1996 bis 2004 Leiter des Unitätsarchivs in Herrnhut und ist derzeit Archivar am Moravian Archives in Bethlehem in Pennsylvania. Dadurch hat er unmittelbaren Zugang zu den Quellen, die seiner Darstellung zugrunde liegen. Er gehört mittlerweile zu den besten Kennern der Zinzendorf-Zeit überhaupt.

Das Buch enthält zunächst ein Einleitungskapitel, in dem Begriffs- bzw. Phänomen-Klärungen (zu Herrnhut, Luthertum, Pietismus und Philadelphischer Bewegung) vorgenommen und das Forschungsinteresse und die Quellenlage entfaltet werden. In den folgenden sieben Hauptkapiteln begründet Peucker seine dem Buch zugrundeliegende These (1. Berthelsdorf, 2. Der Plan; 3. Die Mähren; 4. Streit und Einigung; 5. Glauben und Ideale; 6. Leben in Herrnhut), wobei im 7. Kapitel: „Das Herrnhuter Modell“ die vom Autor für die Frühzeit Herrnhuts entwickelte These zusammengefasst, verallgemeinert und auf die gesamte Zinzendorf-Zeit ausgeweitet wird. Den Kapiteln ist nach einem Vorwort ein Prolog „Die Herrnhuter Maske“ vorgeschaltet, in dem Peucker mit der Rede Zinzendorfs von den Mährischen Brüdern als „Maske“ für die Herrnhuter Gemeinde die philadelphisch bestimmte Ekklesiologie des Grafen zu plausibilisieren versucht. Danach hat sich Zinzendorf der Herkunft der Exulanten aus Böhmen aus der Alten Brüderunität nach außen hin bedient, um seine eigentlichen philadelphischen Absichten zu verschleiern.

Das Buch ist äußerlich ausgesprochen ansprechend gestaltet: Es enthält eine Reihe von Abbildungen, Karten und Tafeln. Dazu kommt ein ausführliches Literaturverzeichnis, ein allgemeines Register, das wesentliche Personen, Orte, Daten und Sachen ausweist, und ein Abkürzungsverzeichnis.

Zweifellos stellt Peuckers Buch gegenüber früheren Veröffentlichungen zur Entstehung Herrnhuts (vor allem zum Buch von Gerhard Reichel, Die Anfänge Herrnhuts, Herrnhut 1922) eine notwendige Fortführung dar. Es enthält eine Fülle von quellenbasierten Informationen, die das Werden der Siedlung in der Oberlausitz plastisch vor Augen treten lassen. Nicht überzeugt hat mich allerdings die Grundthese des Autors. Dies vor allem deshalb nicht, weil sich mir beim Lesen immer wieder der Eindruck aufdrängte, dass Aussagen Zinzendorfs, die gegen sie sprechen, von vornherein unter Verdacht gestellt und dadurch in ihrem Wahrheitsgehalt entwertet werden. Gerade die spezifisch theologischen Aussagen Zinzendorfs, die in eine andere Richtung gehen, werden von Peucker als taktisch interpretiert. Letztlich wird damit das gesamte Handeln des Grafen – einschließlich seiner Motivation – primär politisch verstanden. Das zeigt sich für mich brennpunktartig an Peuckers Erklärung der Ereignisse des 13. August 1727. Er betrachtet lediglich dessen soziologische Seite. Dass es bei der Abendmahlsfeier in Berthelsdorf durch das Wirken des Geistes Gottes zwischen den zerstrittenen Bewohnerinnen und Bewohnern Herrnhuts in spiritueller Hinsicht zur Versöhnung kam, kommt nicht in den Blick.

Peucker kann sich mit seinem Ansatz auf Hans Schneiders These stützen, die dieser bereits beim Forschungskongress zur Theologie Zinzendorfs zu dessen 300. Geburtstag im Jahr 2000 in Herrnhut vertreten hat, dass der Graf in ekklesiologischer Hinsicht durch und durch Philadelphier war. Diese Auffassung hat sich auch im 2021 erschienenen „Pietismus Handbuch“ (hg. von Wolfgang Breul) weithin durchgesetzt. Es ist zur Beurteilung von Peuckers These hilfreich, sich daran zu erinnern, dass die Ekklesiologie des Grafen bereits in der Vergangenheit über Generationen von Forschern hinweg immer wieder äußerst kontrovers diskutiert worden ist. Ich beschränke mich im Folgenden dabei auf das vergangene Jahrhundert. Die erste Gruppe bildeten Forscher, die Zinzendorf als genuinen Lutheraner verstanden, der philadelphische und etwa spiritualistische Vorstellungen, die er in seiner Jugend vertreten hatte, nach seiner Hinwendung zu Martin Luther in den 1730er Jahren sukzessive überwunden habe. Prototypen dieses Interpretationsansatzes waren Samuel Eberhard (Kreuzes-Theologie. Das reformatorische Anliegen in Zinzendorfs Verkündigung, München, 1937) und vor ihm Wilhelm Bettermann (Theologie und Sprache bei Zinzendorf, Gotha, 1935). Die zweite Gruppe von Forschern konstatierte bei Zinzendorf einen durchgängigen philadelphischen Ansatz, verbunden mit der Rezeption einer augustinischen, vom Neuplatonismus geprägten Ontologie. Wichtigster Vertreter dieser Forschergruppe war seit den 1950er Jahren der lutherische Theologe Leiv Aalen aus Norwegen (Die Theologie des jungen Zinzendorf, Berlin, Hamburg, 1966) der dem schwedischen Lutheraner Gösta Hök (Zinzendorfs Begriff der Religion, Uppsala, 1948) folgte. Demnach war und blieb Zinzendorf sein Leben lang mystischer Spiritualist, wobei ihm die geistige Stimmungslage des Barockpietismus und der Frühaufklärung, in der er groß geworden war, die entsprechenden Überlegungen vermittelte. Auch der ältere Zinzendorf habe die genannten Grundüberzeugungen – trotz zunehmender Bedeutung rechtfertigungstheologischer Vorstellungen Luthers – nicht aufgegeben. Peucker knüpft wie vor ihm Schneider mit seiner Position an Aalen an und führt diese weiter.

Eine dritte Gruppe schließlich vertrat eine Mittelposition. Sie konstatierte beim Grafen unterschiedliche Einflüsse, die nebeneinander bestanden. Otto Uttendörfer stellte in seinem Alterswerk „Zinzendorf und die Mystik“ von 1950 die These auf, dass die Besonderheit von dessen Theologie gerade in der spannungsreichen Verbindung von Luthertum und Christusmystik bestand. Erich Beyreuther bemühte sich, in der Auseinandersetzung mit Leiv Aalen den Nachweis zu führen, dass Zinzendorf zwar insgesamt im Rahmen des orthodoxen Luthertums verblieb (Studien zur Theologie Zinzendorfs, Neukirchen-Vluyn, 1962, 140–171, 172–200). Beyreuther gestand aber zu, dass der Graf völlig unbekümmert Vorstellungen aus anderen theologischen Strömungen übernahm, wobei er diese – Beyreuthers Ansicht nach – in einen rechtfertigungstheologischen Zusammenhang überführte.

Der Einblick in die Forschungsgeschichte zeigt, dass die von Peucker vertretene Position keineswegs neu ist. Vielmehr ist offensichtlich ein Wechsel der Auffassungen für die Forschung typisch. Ich schließe daraus, dass die Forschung im Hinblick auf die Ekklesiologie Zinzendorfs bisher noch zu keinem tragfähigen, letztlich überzeugenden Konsens gekommen ist.

Ich selbst gehe anders als Peucker davon aus, dass Zinzendorf aus praktisch-theologischem Interesse sowohl die traditionelle lutherische Ekklesiologie seiner Zeit weiterentwickelt als auch die aufgenommenen philadelphischen Gedanken sukzessive einer Transformation unterzogen hat. Der Graf war daher weder orthodoxer Lutheraner noch reiner Philadelphier, aber auch weder ein kirchlicher noch ein radikaler, separatistisch gesonnener Pietist. Eher kann man sagen, dass sich in seinem Denken Aspekte aller genannten – zugegebenermaßen sehr disparaten – theologischen Richtungen verbanden. Dazu kamen weitere Einflüsse, etwa solche mystischen Denkens. Die ekklesiologischen Aussagen Zinzendorfs lassen eine spannungsreiche Pluralität erkennen, die ernstgenommen werden sollte. Der Eigenart seiner Überlegungen lässt sich nur dann näherkommen, wenn sie nicht vorschnell in Kategorien lutherischer, pietistischer oder philadelphischer Theologie eingezeichnet werden. Seine ökumenischen Aussagen etwa und sein lebenslanger Einsatz dafür, dass die Brüdergemeine nach Selbstverständnis und Außenwahrnehmung nicht – mit modernen Begriffen gesprochen – Freikirche wurde, sondern in der Landeskirche als selbstständige Sozialgestalt von Kirche verblieb, stellen einen eigenständigen ekklesiologischen Beitrag dar, der weder in traditionellen lutherischen noch in traditionellen philadelphischen oder traditionellen pietistischen Überzeugungen aufgeht.

Im Hinblick auf die Ekklesiologie der lutherischen Orthodoxie ist der Graf überzeugt, dass zum Christsein die Überwindung des Konfessionshasses gehört. An seine Stelle hat das ökumenische Engagement zu treten, wobei dieser moderne Begriff besser zum Ausdruck bringt, was Zinzendorf vorschwebte als die Übernahme des Begriffs des Philadelphiertums. Auch in einer Zeit, in der ein Begriff noch nicht bekannt war, konnte ja das damit verbundene Phänomen schon vorhanden sein. Mit Zinzendorfs Einsatz für eine Überwindung des Konfessionshasses verbunden ist seine Kritik an der Fokussierung lutherischer Ekklesiologie auf lediglich zwei Sozialgestalten von Kirche, nämlich auf Ortsgemeinde und Territorialkirche. Er legt stattdessen das Augenmerk auf zwei im Protestantismus seit dem 16. Jahrhundert vernachlässigte Sozialgestalten von Kirche: die Universalkirche und die Nachfolgegruppen, d. h. die Orden bzw. Kommunitäten. Die Universalkirche darf nicht spiritualisiert werden, d. h. es genügt ihm nicht, sie ausschließlich als eine unsichtbare bzw. eschatologische Größe zu denken. Gleichzeitig bemüht sich der Graf um eine Reintegration der vierten Sozialgestalt von Kirche, der Orden, in die evangelische Ekklesiologie. Die Transformation philadelphischer Vorstellungen zeigt sich in Zinzendorfs zunehmend positiver Stellung zur Kirche der Alten Brüder-Unität und zum konfessionellen Luthertum, mithin zur Bedeutung der Konfessionen insgesamt.

Nur auf diesem Hintergrund kommt die Komplexität von Zinzendorfs ekklesiologischem Denken in den Blick und lässt sich eine Engführung der Forschung wie in Peuckers Ansatz auf die Frage überwinden, ob Zinzendorf ein lutherisches oder ein philadelphisch geprägtes Kirchenverständnis vertreten hat. In dieser Engführung liegt der Fehler von Peuckers Forschungsansatz, von dem sein ganzes Buch geprägt ist. Mit der hermeneutischen Vorentscheidung gelesen, dass Herrnhut eine philadelphische Gemeinschaft war, werden gegenteilige Aussagen in den historischen Quellen unter Verdacht gestellt, uminterpretiert und verlieren dadurch ihre möglicherweise kritische Aussagekraft gegenüber der Position Peuckers.


Professor Dr. Peter Zimmerling, Leipzig