Historische Theologie

Mischa Meier: Die neronische Christenverfolgung und ihre Kontexte

Mischa Meier: Die neronische Christenverfolgung und ihre Kontexte, Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 62, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021, Pb., 73 S., € 22,–, ISBN 978-3-8253-4805-2


Mischa Meier ist Professor für Alte Geschichte an der Universität Tübingen. Aufgrund seiner umfassenden Darstellung der Völkerwanderung erhielt er 2022 den Leibniz-Preis. Das schmale Büchlein über die neronische Christenverfolgung greift den Stand der Forschung (und der Meinungen von Forschern) auf, und möchte einige Zusammenhänge vertiefen.

Erstens will Meier zeigen, wie die damals neue jüdische Bewegung der Judenchristen in der Stadt Rom zunehmend beachtet wurde, erkennbar in den Jahren 41, 49 und 64, und zweitens führt Meier aus, wie Nero bestimmte Hinrichtungsarten für (Juden-)Christen in Anlehnung an die antike Mythologie wählte.

Viele Althistoriker gehen von bestimmten fixen Vorstellungen (Dogmen?) aus, so auch Meier: Die Mitgliederzahl der christlichen Gemeinde in der Stadt Rom um 64 n. Chr. war noch gering (61), wobei er nicht sagt, was er mit „gering“ meint.

Ich versuche eine Schätzung der Größenordnung: Vermutlich gab es damals in der Stadt Rom ungefähr 1000 Christen, von denen etwa 100 durch Neros Massaker getötet wurden. Für die Beziehungen der Christen zu ihrer Umwelt im 1. Jahrhundert in den einzelnen Regionen gibt es übrigens ein äußerst informatives 1800seitiges Buch von Eckhard J. Schnabel: Urchristliche Mission, Wuppertal: R. Brockhaus, 2002.

Ähnlich wie andere Althistoriker meint auch Meier: Von Christen und vom Christentum konnte Nero „noch keinen Begriff und keine Vorstellung haben“ (63). Daraus ergibt sich die Frage, „wer in den 60er Jahren in Rom überhaupt in der Lage gewesen sein soll, die Christiani/Chrestiani als eigenständige Gruppe zu identifizieren“ (14). Gemäß Meier „kann es auf diese Frage nur eine plausible Antwort geben: diejenigen, von denen die frühen Christen sich separiert […] hatten – die Juden.“ Meier sieht die neronische Christenverfolgung im Kontext von Spannungen zwischen Juden und Judenchristen. Wohl wegen solcher Spannungen schritt bereits Kaiser Claudius ein, der vielleicht durch Hinweise aus jüdischen Kreisen auf die Christen aufmerksam gemacht wurde; „vermutlich hegte man die Hoffnung, durch Appelle an den Herrscher die Aktivitäten der aus jüdischer Perspektive sektiererischen Kleingruppe einzudämmen“ (14).

Im Jahr 41 verbot Kaiser Claudius den Juden in der Stadt Rom, sich weiterhin zu versammeln, und befahl, dass „sie ihre ererbte Lebensweise beibehalten sollten“ – so formuliert von Cassius Dio. Meier (23f) vermutet als Hintergrund dieser Anordnung Tumulte in den Synagogen aufgrund der Missionsversuche von Judenchristen; es sollte zu keinen, mit Unruhen verbundenen Änderungen in der bisherigen Glaubenspraxis der Juden kommen, veranlasst durch eine neue Gruppe, nämlich den Judenchristen.

Eine ähnliche Situation vermutet Meier für die von Sueton berichtete Ausweisung von Juden aus Rom im Jahr 49: Sie galt – so Meier – nicht für sämtliche Juden, sondern nur für (einige?) Judenchristen, also den Unruhestiftern (29). Meier verweist auf Apg 18,2: Paulus begegnete in Korinth den aus Rom vertriebenen Judenchristen Aquila und Priscilla; daraus ist zu schließen, dass mit dem von Sueton genannten „Chrestus“, als dem Auslöser der Unruhen, Jesus Christus gemeint ist (17–19). Die Apg ist für Meier eine wichtige, großenteils zuverlässige historische Quelle: „Dass die Predigten der frühen Christen in der Tat zu heftigen Reaktionen im Umfeld der Synagogen führen konnten, wissen wir aus der Apostelgeschichte und dem paulinischen Corpus“ (24); konkret nennt Meier Apg 6 und 12–18 sowie 2Kor 11,24f, außerdem 1Thess 2,2 und 2,15f (dagegen wird die zuletzt genannte Stelle in Antisemitismus-Studien oft als sachlich unzutreffend und daher als Ausdruck einer antisemitischen Haltung eingeschätzt). Meier sieht hier Parallelen und hält es für „leicht vorstellbar, dass in derselben Weise, wie Paulus in Kaisareia vor […] Felix [Apg 24] angeklagt wurde, auch in Rom Christusanhänger durch ihre Gegner im Judentum des Aufruhrs und der Unruhestiftung bezichtigt und vor die Amtsträger, möglicherweise sogar vor den Kaiser gezerrt worden sind“ (25). Eine solche plausibel klingende Vermutung wird aber in den Quellen nicht direkt belegt. Laut Meier waren es Juden, „die – das wusste man seit den Zeiten des Claudius – offenbar wiederholt am Kaiserhof Beschwerde über die Chrestus/Christus-Leute führten und dadurch – aus römischer Perspektive – auf Unruhen innerhalb der eigenen Gemeinden aufmerksam machten“ (61).

Das Gerücht, dass der große Brand in Rom auf einen Befehl Neros zurückging, war laut Meier nur in senatorischen Kreisen Roms verbreitet (41f, 65). Christliche Quellen sagen nichts über eine Verknüpfung des Brandes mit der Christenverfolgung (36–38, 65). Dass Nero diesem Gerücht entgegentreten wollte, indem er Christen zu Sündenböcken machte, finden wir nur bei Tacitus (39). Die von Tacitus berichteten Geständnisse der Beschuldigten versteht Meier so, dass die Betreffenden zugaben, zur Chrestus-Gruppe zu gehören (44) – aber nicht, Rom angezündet zu haben.

Meier widerspricht dem Spätdatierungs-Versuch des 1. Klemensbriefes (um 125 n. Chr.): „in der Datierungsfrage vermag [Otto] Zwierlein keine überzeugenden Argumente vorzubringen, die eine Revision der zuletzt von Tassilo Schmitt erneut fundiert begründeten Ansetzung in die Spätzeit Domitians (81–96) erzwingen würden“ (34). 1Klemens 5 verweist auf christliche Märtyrerinnen, die „als Danaiden und Dirken“ getötet wurden, was zu Neros Christenverfolgung passen würde (35f). Diese mythologische Anlehnung nahm, wie Tassilo Schmitt darlegte, „direkten Bezug auf entsprechende Skulpturen und Statuen, die in Rom aufgestellt waren und große Berühmtheit genossen“ (49). Beim Bericht des Tacitus denkt Schmitt an die Mythen des von 50 Hunden zerrissenen Aktaion sowie der Selbstverbrennung des Herakles. „Gemeinsam ist all diesen Mythen, dass sie das Thema des Verwandtenmords reflektieren“ (66). Warum Nero zu dieser Darstellung ausgerechnet Christen auswählte, um sie so brutal zu bestrafen, kann Meier nicht klären, auch wenn er verschiedene Überlegungen anstellt. Jedenfalls flossen für Nero „zunehmend Mythos und Realität“ ineinander (54). In Bezug auf die von Nero ebenfalls angewandte Kreuzigung mehrerer Christen lässt sich keine mythische Parallele finden (51). M. E. ist das ein Hinweis darauf, dass Nero doch mehr über die Christen wusste, als Althistoriker – wie Meier – annehmen.

Fazit: Mischa Meier entnimmt historischen Quellen wie der Apostelgeschichte, dass die frühen judenchristlichen Missionare von Juden bekämpft wurden, u. a. indem diese an römische Amtsträger appellierten. Ähnliche Vorgänge könnten, so Meier, zu Maßnahmen der Kaiser Claudius (41 und 49) sowie Nero (64 oder bald danach) geführt haben. Das wäre möglich, ist aber nicht direkt durch Aussagen von Quellen belegt. Ein solches Spannungsfeld zwischen Empirie (= Quellen) und Theorie (der Althistoriker) zeigt sich auch bei der Einschätzung des Berichtes von Tacitus (in Annalen 15,44) über die neronische Christenverfolgung. Fixe Vorstellungen von Althistorikern (z. B. dass es damals nur wenige Christen in Rom gab) führen – auch Meier – dazu, mehrere Aussagen von Tacitus zu bezweifeln: Dass das Gerücht von Nero als Brandstifter weit verbreitet war (Meier: nur in senatorischen Kreisen), dass „die Christen“ vom Volk so bezeichnet wurden (Meier: erst viel später), dass diese von Nero als Sündenböcke herangezogen (Meier: nur eine Idee von Tacitus) und in „ungeheurer Anzahl“ (Meier: Tacitus übertreibt) getötet wurden. Allerdings bewegen sich Meiers Ausführungen weitgehend auf der Ebene von Vermutungen. Deren Lektüre verstärkte meinen Respekt vor dem Bericht von Tacitus eher noch, und ich halte ihn auch in seinen Einzelheiten für zutreffend. Wo heutige fixe Vorstellungen von Althistorikern im Widerspruch zu Tacitus stehen, hinterfrage ich eher diese Vorstellungen. Solche sollten zumindest sorgfältig begründet werden.


Dr. Franz Graf-Stuhlhofer, BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik