Historische Theologie

Hans-Otto Schneider (Hg.): Der Erbsündenstreit (1559–1580)

Hans-Otto Schneider (Hg.): Der Erbsündenstreit (1559–1580), Controversia et Confessio 6, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, Ln., 746 S., € 95,–, ISBN 978-3-525-56053-2

Hans-Otto Schneider (Hg.): Gesamtregister, Controversia et Confessio 10, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023, Ln., 174 S., € 99,–, ISBN 978-3-525-50015-6


Die Erbsündenlehre bleibt nach dem Tridentinum (1545–1563) bis zur Gegenwart ein theologisches Kontroversthema ersten Ranges. 1999 wurde die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ (GER) mit einer „Gemeinsamen offiziellen Feststellung“ (GOF) des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche und einem Anhang zur „Feststellung“ von evangelischer und katholischer Seite angenommen. Damit war aber der Lehrunterschied in der Frage nach der bleibenden Sündigkeit des Getauften aufgrund der Erbsünde nach Auffassung der katholischen Seite nicht aufgehoben (vgl.: Quellen zu Abs. 4.4 am Ende der GER und den Anhang zur „Feststellung“ Abs. A und B). „Simul iustus et peccator“ könne nur Ausdruck einer Erfahrung, aber nicht eine dogmatische Aussage über wirklich vorhandene Sünde sein, so der damalige Kurienkardinal Joseph Ratzinger.

In der Phase der Ablösung evangelischer Lehre vom katholischen Dogma konnte auch eine innerevangelische Kontroverse über die Erbsündenlehre nicht vermieden werden. Die Botschaft von der Rechtfertigung aus Gnade allein erforderte theologische Klärungen bei den damit zusammenhängenden Themen der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, in der Frage der Willensfreiheit und in der Hamartiologie. Der Herausgeber des Bandes, Hans-Otto Schneider, fasst die Streitfrage folgendermaßen zusammen: „Bewirkt die Erbsünde eine zwar schwere, aber doch letztlich nicht mehr als akzidentielle Beeinträchtigung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen – oder eine vollständige, substanzielle Verderbnis, so dass geradezu von einer Teufelsebenbildlichkeit des Menschen zu sprechen wäre?“ (Vorw., V, unpag.)

Der hochgelehrte und streitlustige Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) hat sich schon seit dem Augsburger Interim 1548 mit zahlreichen Schriften an den theologischen Diskussionen seiner Zeit beteiligt; sechs der ausgewählten zweiundzwanzig Beiträge zum Erbsündenstreit in Controversia et Confessio 6 (C&C 6) stammen aus seiner Feder. Als Autor oder Mitarbeiter von sechsundzwanzig Veröffentlichungen führt er mit Abstand die Autorenliste der neun Textbände von C&C an. (Ihm folgen Nikolaus von Amsdorf mit zehn und Nikolaus Gallus mit neun Einträgen.) An der Seite von Flacius steht im Erbsündenstreit besonders Cyriakus Spangenberg (1528–1604), der als Hofprediger in Mansfeld und als Pfarrer auch an anderen Orten gewirkt hat. In seinem Studierzimmer entstanden sechs Beiträge dieses Sammelbandes. Sie rufen das Anliegen des Flacius zeitlich über dessen Tod am 11.3.1575 hinaus, ja sogar noch nach Erscheinen der Konkordienformel von 1577, in Erinnerung. (Siehe auch: „Spangenberg, Cyriakus“, in: Controversia et Confessio Digital, Hg. v. Irene Dingel, https://www.controversia-et-confessio.de/id/d65460a4-61f8-43bc-ba76-23024628f66c Zugriff am 28.2.2024.)

Seit der Weimarer Disputation zwischen Matthias Flacius und Victorin Strigel im August 1560 war die Behandlung der Erbsündenfrage dringend notwendig geworden. Flacius war auch bei dieser Thematik der von Luther geprägten Überzeugung, dass der Mensch völlig erlösungsbedürftig und Christus der alleinige Erlöser sei. In keiner Weise könne der Mensch etwas bei seiner eigenen Bekehrung mitwirken, ohne das Verdienst Christi zu schmälern. Strigel und Flacius streiten über die Frage, wie stark das „Herz“ als Ausdruck für das Zentrum des Menschen durch die Sünde verderbt ist. Strigel vertritt die Lehre, dass das Herz zwar stark, aber letztlich wiederherstellbar geschädigt sei. Flacius ist der Überzeugung, dass das totale Verderben aus dem gottebenbildlichen Menschen sogar ein „Ebenbild des Teufels“ gemacht habe. Wenn Strigel und Flacius beim Argumentieren die aristotelischen Kategorien von Substanz und Akzidenz verwenden, wird das durch die biblische Hamartiologie gestellte Problem nicht unbedingt exakter beschrieben: Flacius meint, der Mensch sei in seinem Wesen zutiefst verderbt worden, Strigel kann der Erbsünde des Menschen nur einen akzidenziellen Charakter zusprechen.

Schon im Rahmen des Synergistischen Streits (C&C 5, 2019, siehe auch https://rezensionen.afet.de/?p=1867) kommt Flacius ab 1559 zur Überzeugung, dass der Verlust der Gottesebenbildlichkeit den Menschen zum Ebenbild des Teufels mache (Text 1: Disputatio de originali peccato et libero arbitrio, 1559, C&C 6,55, Z.6f „ad imaginem Satanae transformatus“). Die Erbsünde korrumpiere die Substanz des Menschen (Text 2: Weimarer Disputatio, Sessio Secunda, 1560, C&C 6,80, Z.10 „Quod sit substantia, dixi Scripturam et Lutherum affirmare“). In der Clavis Scripturae wiederholt Flacius, der Mensch sei im Wesen zur „uera imago satanae“ ge-worden (Text 3: Clavis Scripturae II, Tractatus VI, 1567, C&C 6,130, Z.4). – Auf diese Ausführungen antwortet der damals in Küstrin, aber im Lauf seines Lebens auch an zahlreichen anderen Orten amtierende Pfarrer Christoph Lasius (1504–1572) in seiner ersten abgedruckten Gegenschrift Wider die flacianische Klotzbuß (Text 4, 1568).

Von 1570 an erschien eine größere Zahl von Gegenschriften (C&C 6,14), unter denen sich die Themata de imagine Dei in homine der Braunschweiger Theologen Martin Chemnitz (1522–1586) und Joachim Mörlin (später wie Chemnitz in Preußen, Bischof von Samland, 1514–1571) durch ihre strukturierte, konzise Argumentation gegen den flacianischen Substanzbegriff von anderen Schriften unterscheiden (C&C 6, Text 8, 340–377). Die Position von Flacius und seinen Anhängern wurde von seinen Gegnern teils falsch verstanden, teils in ihren Gegenschriften falsch dargestellt. Beendet wurde die Kontroverse auch durch die Konkordienformel von 1577 (FC) nicht (C&C 6,15f). Die FC sollte die lutherische Lehreinheit herstellen und wahren. So musste sich die Konkordie auch zur Erbsünde äußern. An prominenter Stelle, direkt nach dem grundlegenden Vorspruch zur Heiligen Schrift „De compendiaria regula atque norma“ (BSELK 1216/17–1217/18) wird die Konkordie zur Erbsündenlehre im ersten Artikel behandelt (BSELK Epitome 1218/19 –1226/27, Solida Declaratio 1318/19–1344/45 „Von der Erbsünde“ / „De peccato originis“). Die FC vermeidet Extrempositionen; die Erbsünde ist „Hauptsünde“ und „Quelle aller Tatsünden“. Das Bild Gottes im Menschen ist verloren, aber zwischen seiner von Gott erschaffenen Natur und der Erbsünde, die in der Natur wohnt, ist zu unterscheiden. Auch die bedeutendsten Seelenkräfte: Verstand, Herz, Wille, sind verdorben. Die menschliche Natur ist der Herrschaft des Teufels unterworfen (vgl. C&C 6, 16f) Die Fachbegriffe „Substanz“ und „Akzidenz“ sollten nur in der gelehrten Schuldiskussion verwendet werden (BSELK 1226/27). – Mit diesen Kompromissformulierungen der FC konnten echte Flaciusanhänger nicht zufrieden sein. So erging es auch Spangenberg in seinen „Bedenken“ von 1580, dem letzten Dokument der Sammlung (C&C 6, Nr.22, Anathema 686–708), in denen er sich für die Verwendung der Begriffe „Substanz“ und „Akzidenz“ auch auf der Kanzel ausspricht.

Hans-Otto Schneider, der C&C 6 ausgearbeitet hat, ist Wiss. Mitarbeiter am Projekt Controversia et Confessio der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Prof. Irene Dingel hat als Direktorin (jetzt im Ruhestand) des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte Mainz (Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte) das Forschungsprojekt Controversia et Confessio geleitet. Schneider hat in der Zeit seiner Mitarbeit (2007 bis 2022) die Bände der Reihe C&C bearbeitet. Die Auswahlausgabe des 6. Bandes über die Erbsündenlehre hat er allerdings eigenständig zusammengestellt und herausgegeben sowie 2021 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Leipzig als Dissertation eingereicht. Als Erstgutachter fungierte Professor Armin Kohnle, als Zweitgutachterin Professorin Irene Dingel aus Mainz. Die exzellente Edition der Bände von Controversia et Confessio wird den guten Ruf des Leibniz-Instituts und der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur weiterhin stärken, zumal das Digitalisierungsprojekt C&C Digital die Langzeitwirkung des enormen Forschungsaufwandes verbürgt.

Nicht nur den Sammelband zum Erbsündenstreit, sondern auch das Gesamtregister (2023) zu den Bänden 1 bis 9 hat Hans-Otto Schneider herausgegeben. Es enthält eine Liste der neun Inhaltsverzeichnisse, zwei Verzeichnisse der edierten Stücke nach Erscheinungsjahren und Verfassernamen, die üblichen Personen- und geogra-phischen Register, ein umfangreiches Zitatenregister sowie Corrigenda und Addenda. Der Herausgeber hat darauf verzichtet, die umfänglichen Bibelstellenregister der neun Bände zusammenzuführen, da diese eher im thematischen Zusammenhang der einzelnen Bände als über diesen Kontext hinaus verwendet werden (C&C 10, V, un-pag., Anm. 1). – Wer sich mit der Erstellung von wissenschaftlich zuverlässigen und sauber formatierten Registern auskennt, weiß, wie viel Mühe und Sorgfalt sich hinter dem veröffentlichten Ergebnis verstecken. Und wer einen Registerband benutzt, ist dankbar dafür, weil die Brauchbarkeit des Werks dadurch substantiell zunimmt. Im Mai 2022 fand eine Tagung zum Abschluss des Projekts „Controversia et Confessio“ in der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur statt. Die Beiträge zum Thema Streitkultur – Akteure – Wirkungen. Der lutherische Bekenntnisbildungsprozess in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sollen als 11. Band der Reihe erscheinen.


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Schriesheim