Christopher Watkin: Biblical Critical Theory. How the Bible’s Unfolding Story Makes Sense of Modern Life and Culture
Christopher Watkin: Biblical Critical Theory. How the Bible’s Unfolding Story Makes Sense of Modern Life and Culture, Grand Rapids: Zondervan Academic, 2022, geb., 672 S., € 33,55, ISBN 978-0-310-12872-4
Ich nehme das Prädikat für meine Bewertung vorweg: „bahnbrechend“. Vor Jahren rühmte ich die auf sechs Bände geratene (ursprünglich nicht angelegte) Kulturanalyse von David F. Wells, der in Anlehnung an Augustins Werk „Vom Gottesstaat“ eine Art Systematische Theologie im Dialog mit der Gegenwartskultur entlang der Schwerpunkte Wahrheit – Gott – Mensch – Christus – Kirche entwickelt hatte („Buchbesprechungen: Eine monumentale Kulturkritik des Westens und des Evangelikalismus“. https://hanniel.ch/2017/02/17).
Ein Blick in die Biografie des Autors ist hilfreich, um dessen Ansatz zu verstehen: Watkin berichtet in dem Podcast Grace in Common („Biblical Critical Theory with Christopher Watkin, Part I“, 7’00ˮ–8’00ˮ. https://www.thinkingthroughthebible.com/audio-grace-in-common-podcast-episodes-on-biblical-critical-theory), dass er als Student in Cambridge in der Bibliothek der christlichen Studentenorganisation „The Christian Heritage“ auf 200–300 Werke stieß, die für ihn das Tor zur Auseinandersetzung mit der Ideengeschichte des Westens auf dem Hintergrund einer biblischen Weltsicht aufstießen. Mit dem ihm eigenen Hunger las er Werk um Werk, dies parallel zu seinem intensiven Studium im Fachgebiet der Philosophie und französischen Literatur. Der von einem weiten Blick zeugende Umgang mit Quellen wie etwa Gilles Deleuze (1925–1995), Bruno Latour (1947–2022), Jacques Derrida (1930–2004) oder auch Jacques Ellul (1912–1994) oder Paul Ricoeur (1913–2005) verleiht dem Buch die Frische eines neugierigen Autors, die über angestammte Herrschaftsgebiete oder theologische Demarkationslinien hinausgeht.
Nun habe ich mir selbst die Aufgabe zugespielt, das Prädikat „bahnbrechend“ zu begründen: Zunächst arbeitet Christopher Watkin den Kulturbegriff äußerst klug und umfassend aus (vgl. 4–13), wobei er die Spannweite an bestehenden Konzepten so zusammenfasst: Einige Ansätze betonen den kognitiven Aspekt der Kultur – Ideen, Konzepte und Weltanschauungen. Andere konzentrieren sich auf Erzählungen und Symbole. Wieder andere unterstreichen die verhaltensbezogene, körperliche, gewohnheitsmäßige Dimension oder stellen die Objekte und Artefakte einer Kultur in den Vordergrund.
Watkin verfolgt einen holistischen Ansatz und kombiniert Sprache, Zeit, Raum, Wirklichkeitsstruktur, Verhaltensweisen, Beziehungsweisen und Objekte in seiner Definition. Dabei sind die einzelnen Figuren nicht vergleichbar mit Kleidern, die wir uns an- und ausziehen, sondern „sind so etwas wie unsere Nahrung, die wir in uns aufnehmen und aus der unser Körper gemacht ist”. Jede von ihnen ist „umfassend”, aber keine von ihnen ist „erschöpfend” (8). Die Bibel sieht er in diesem Rahmen als göttliche Ansprache mit demselben Set an Figuren, die unsere bestehende innere Landschaft in Frage stellt und rekonfiguriert.
Daraus leitet sich die Grundidee des Werkes ab. Entlang dem Erzählstrang der Bibel zeichnet Watkin ein biblisches Bild von der Welt und Menschheit und vergleicht es mit anderen Sichtweisen. Der Autor möchte die Tiefenstrukturen einer Kultur a) sichtbar werden lassen, um sie b) bloßzustellen und zu verändern. Ähnlich dem oben genannten David F. Wells nimmt Watkin dabei Maß an Augustins apologetischem Mammutwerk „Vom Gottesstaat“, in dem der Kirchenvater zuerst die römische Kultur beschrieb, um dann aufgrund der Heilsgeschichte von Genesis bis Apokalypse einen biblischen Denk- und Handlungsrahmen zu entwickeln.
Für seine Methodologie wählte Watkin bewusst den Begriff der Diagonalisierung. Er spürt die im säkularisierten Westen geläufigen Dichotomien auf, um diese dann durch den „dritten Weg“ der Bibel abzulösen. Dabei ist es wichtig zu betonen, dass es sich nicht wie bei Aristoteles um die Suche einer Mitte zwischen zwei Extremen handelt, sondern um die Transzendierung bestehender ideengeschichtlicher Konzepte.
Die Schwerpunktsetzung erscheint einfach, ist jedoch klug gewählt. Watkin legt die Grundlagen aufgrund des Berichts am Anfang von Genesis, indem er über Trinität, Schöpfung der Welt und die Erschaffung des Menschen spricht. Die nächsten drei Kapitel nimmt die tiefgreifende und der von der säkularisierten Kultur konsequent umgedeutete Zäsur der Sünde ein. Die folgenden sieben Kapitel folgen dem „Flusslauf“ des Ersten Testaments (Lamech bis Noah, Babel, Abraham, Exodus/Tora, Propheten, Weisheitsliteratur).
Das Zentralereignis der Menschwerdung von Jesus wird in zwei Kapiteln beleuchtet, ergänzt um eines über den dreijährigen Dienst von Jesus. Kreuzigung, Tod und Auferstehung sind in drei weiteren Abschnitten festgehalten.
Eine überaus interessante Wendung nimmt Watkin im letzten Teil. Wie so mancher Systematische Theologe wusste er anfangs nicht, wie er die biblische Eschatologie fruchtbar für sein Vorhaben nutzen konnte. Aus diesem gedanklichen Engpass entstand ein magistraler letzter Teil mit sieben Kapiteln, davon drei zu Figuren aus der Offenbarung, die ihrerseits in gewissem Sinn eine Kritik der damaligen von Rom geprägten Gesellschaft vornahm. Überaus passend schließt der Epilog mit dem, worauf alle Theologie zielen soll: auf die Doxologie – das Gotteslob.
Ein wiederkehrend auftauchendes Thema ist die Mentalität der Vermarktung („market society“). Watkin wird nicht müde herauszuarbeiten, wie die Konsumgesellschaft mit ihrer Logik des Tausches unseren Alltag und unsere Beziehungen prägt. Wir gehen in Vorleistung gegenüber Gott und Nächsten, um im Gegenzug Bedürfnisse und Erwartungen einfordern zu können. Dem stellt Watkin den Zentralgedanken, genannt U-Shape, entgegen: Gott kommt zu uns und verändert uns; wir reagieren in Dankbarkeit darauf. Allein deshalb schon lohnt sich die Lektüre.
Die monumentale Leistung kann ich nur mit untergeordneten Kritikpunkten ergänzen. Ich bin mir nicht sicher, ob die schiere Länge des Buches dazu führte, dass ich bei einzelnen Kapiteln mehrmals zum Lesen ansetzen musste (oder durfte). Ebenso musste ich öfter in frühere Kapitel zurückblättern, weil ich mich in einer einzelnen Figur oder Argumentation verloren hatte. Dem kann entgegengehalten werden, dass sich die einzelnen Kapitel mit der klaren Struktur, den einfachen Grafiken zu Diagonalisierung sowie den Fragen zur Vertiefung eher für das abschnittsweise Studium als für das Lesen in einem Zug eignen. Jedenfalls ließ mich trotz des klaren Aufbaus und Gesamtverlaufs phasenweise das Gefühl der Unverbundenheit nicht los. Mit dem Titel, der zuerst für Verwirrung sorgen kann, bekunde ich indessen keine Mühe. Es geht um die Stärkung der Kritikfähigkeit aufgrund einer inneren Sättigung mit der biblischen Weltsicht. Deshalb ist das Studium eines solchen Werks gerade für Pastoren Pflicht: Unsere tägliche „Katechese“ – die Vermittlung zeitgenössischer, säkularer Ideen – dominiert den täglichen geistlichen Menüplan. Ebenso wenig kann ich mit der – platten – Kritik der Diagonalisierungsmethode durch andere Rezensenten anfangen. Watkin ist ein auf der Metaebene äußerst bedacht vorgehender Denker; es geht bei ihm nie um Zentrierung der Argumente, sondern um das Sichtbarmachen der biblischen Ideen. Das erscheint mir als ein Vorgehen, welches vergleichbare Ansätze weit übertrifft.
Hanniel Strebel, PhD (USA) in Systematischer Theologie zur Theologie des Lernens bei Herman Bavinck, Projektleiter und Berater