Systematische Theologie

James Ambrose Lee II: Confessional Lutheranism and German Theological Wissenschaft. Adolf Harless, August Vilmar, and Johannes Christian Konrad von Hofmann

James Ambrose Lee II: Confessional Lutheranism and German Theological Wissenschaft. Adolf Harless, August Vilmar, and Johannes Christian Konrad von Hofmann, Theologische Bibliothek Töpelmann 198, Berlin: De Gruyter, 2022, geb., X+307 S., € 89,95, ISBN 978-3-11-076053-8


Die vorliegende Arbeit ist eine kirchengeschichtliche Dissertation bei Michael McClymond an der University of St. Louis. Der Verfasser ist als „Associate Professor of Theology“ an der Concordia University, Chicago, tätig. Gegenstand der Untersuchung ist die Frage der Verhältnisbestimmung zwischen Kirche und wissenschaftlicher Theologie. Lee ist Glied der „Lutheran Church-Missouri Synod“. So überrascht es nicht, dass er seine Untersuchung am Beispiel von drei Vertretern des aus der Erweckungsbewegung hervorgegangenen lutherischen „Konfessionalismus“ durchführt.

In seiner Einleitung skizziert Verf. die wissenschaftsgeschichtlichen Paradigmenwechsel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So wurde zunächst im Gefolge der Aufklärung die Theologie durch die Philosophie als Leitwissenschaft verdrängt, bevor ab 1840 auch diese durch die Dominanz der Naturwissenschaften als Paradigma ersetzt wurde. Damit geriet die Stellung der Theologie an der Universität in die Defensive. Noch nicht untersucht sei, wie sich die Vertreter des konfessionellen Luthertums hierzu verhalten hätten. Lee wählt für seine Untersuchung mit den Erlanger Theologieprofessoren Johann Christian Konrad Hofmann (1810–1877) und Adolf Harleß (1806–1879), sowie dem hessischen Kirchenmann August Vilmar (1800–1868) drei Vertreter aus der ersten Generation des „Neuluthertums“ aus, die durch einen je spezifischen Ansatz gekennzeichnet seien. So habe sich Hofmann um einen systematischen Gesamtentwurf bemüht, während Harleß an der Verbindung zwischen Universität und Kirche gelegen war und er seinen erfahrungstheologischen Ansatz mit methodologischen Fragestellungen zu verbinden suchte. Dem gegenüber stehe Vilmar für einen dezidiert wissenschaftskritischen Ansatz.

Zunächst zeichnet Verf. nach, was er „The Emergence and Development of German Theological Wissenschaft“ (17) nennt. Kant und Schelling werden gewürdigt in ihrem Bemühen, der Theologie im Rahmen einer philosophischen Gesamtschau ihren Ort an der Universität zu belassen. Wirkmächtig wurde Schleiermacher durch seinen Ansatz, die Theologie als „positive“ Wissenschaft zu legitimieren. Die Symbiose von Theologie und Wissenschaft wurde aber durch weitere Paradigmenwechsel wieder in Frage gestellt.

In seinem zweiten Hauptteil skizziert Verf. den Entstehungsprozess der Erweckungsbewegung. Was deren status nascendi betrifft, so vermisst man den Hinweis auf Hamanns Überwindung der Kantschen Dichotomien. Beyschlags Erlanger Theologie wird zwar im Literaturverzeichnis erwähnt, aber in der Untersuchung selbst nicht fruchtbar gemacht.

Harleß ist insofern ein dankbarer Untersuchungsgegenstand, als er eine Theologische Encyklopädie und Methodologie vom Standpunkte der protestantischen Kirche veröffentlichte (Nürnberg: Schrag, 1837). Darin verortete er die Wissenschaftlichkeit der Theologie in ihrer methodischen Rechenschaftsfähigkeit, nahm aber die Eigenständigkeit der Theologie für diese in Anspruch. Demnach liege die Einheit der Theologie als Wissenschaft in ihrem zu untersuchenden Objekt. Die „Enzyklopädie“ schafft die Einheit nicht, sondern beschreibt sie. Harleß ist dabei mehr an einer Bestimmung des Propriums der Theologie als einer kirchlichen Wissenschaft gelegen als an einer Vermittlung mit einem allgemeinen Wissenschaftsbegriff, den er gleichwohl nicht aufgeben will. Mit Kant lehnt Harleß die Konstruktion der Theologie auf der Basis von „a prioris“ ab und will sie lieber mit Schleiermacher auf die Erfahrung gründen, die Christus mit den Gläubigen verbinde. Dem Subjektivismus sucht er durch die Betonung der objektiven Erkenntnisprinzipien zu entkommen. Mit Christus und der Kirchengeschichte hat die Theologie ihren eigenen Untersuchungsgegenstand, dessen Erforschung keineswegs abgeschlossen ist, zumal die Kirche als Organismus in ihrem Wachstum unabgeschlossen ist.

Auf den ersten Blick bietet Vilmars Ansatz einen Gegenentwurf auch zur Harleß’schen Synthese dar. Denn er legt mit seiner Programmschrift Theologie der Thatsachen wider die Theologie der Rhetorik (Marburg: Elwert, 1856) eine Abrechnung mit der Universitätstheologie seiner Zeit vor. Den Grundfehler erkennt er darin, sich auf eine Diskussion über die vermeintliche Voraussetzungslosigkeit überhaupt einzulassen. Für die Theologie ist das deshalb eine Unmöglichkeit, weil es in ihr um die Heilsfrage geht. Vilmar definiert den Theologen durch seine Aufgabe: Er hat Hirte zu sein, weil er künftige Hirten ausbilden soll. Kriterien für eine rechenschaftsfähige Theologie stellt freilich auch Vilmar auf. Diese soll nicht spekulativ, sondern biblisch strukturiert sein, historisch orientiert, aber nicht reduktiv, persönlich, aber nicht subjektiv. Lessings Kritik sticht nicht, da es bei den „Tatsachen“ der Theologie nicht um geschichtlich bedingte Gedanken geht, sondern um die Grunddaten der Soteriologie. Insofern die kirchliche Dogmatik als Abschreiten des durch das Gefüge von Christus, Schrift und Bekenntnis eröffneten Erfahrungsraums autonom, methodisch und kohärent vorgeht, trägt sie Züge der Wissenschaftlichkeit, entzieht sich aber einem übergeordneten Wissenschaftsbegriff.

Hofmann schließlich ist davon beseelt, dass die Wissenschaft der Menschheit zu dienen hat und dabei auch transformativ wirken soll, zum Besten von Kirche und Staat. Dabei sei bei dem Erlanger, wie Lee betont, leichter erkennbar, was er kritisiert als was er konstruktiv beizutragen hat. So lehnt Hofmann Rationalismus, „Mysticismus“ und Supernaturalismus ab. Theologische Wissenschaft gründet für ihn nicht auf externen Garantien (auch nicht auf einem Schriftprinzip), sondern sucht eine innere Verbürgung. Letztlich geht es ihr um die in Christus realisierte und in der Kirche verallgemeinerte Gottesbeziehung. Wichtig ist ihm allein der gegenwärtig in der Kirche wirkende Christus. Insofern teilt Hofmann nicht die Harleß’sche Priorisierung der Exegese. Auch Hofmann definiert die Theologie nicht von einem übergeordneten Wissenschaftsbegriff her, sondern allein von der Besonderheit ihres Objekts. Anhand der Gotteslehre versucht Lee Hofmanns Ansatz vertieft darzustellen. Ausgangspunkt ist die ökonomische Trinität. Die Erlösung wird als durch Christus ermöglichte participatio des Menschen an Gott definiert.

Lee fasst im letzten Kapitel seine Befunde zusammen und betont die Gemeinsamkeiten der drei Protagonisten. Keiner von ihnen sei ein Repristinationstheologe gewesen. Alle drei übten Kritik an ihren Zeitgenossen, von deren Einflüssen sie selbst nicht frei waren, ohne das immer sehen zu können. Alle drei begegneten dialogisch der sie umgebenden Kultur. Deutlich wird freilich in der Gesamtschau: Zu Wissenschafts- und Methodenfragen gab es keine einheitliche konfessionelle Linie.

Verf. arbeitet in Teilen primär auf der Basis von Sekundärliteratur, in anderen auf Quellenbasis. Die deutschen Originalzitate, die Verf. zumeist in englischer Übersetzung darbietet, sind bedauerlicherweise nicht mit abgedruckt. Schade ist es, dass Werner Elerts ähnlich gelagerte Untersuchung über die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts (Der Kampf um das Christentum. Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel, München: Beck, 1921) nicht ausgewertet wird.

Gleichwohl ist Lees Arbeit in doppelter Hinsicht verdienstvoll. So öffnet er die Augen für die Vielfalt der lutherischen Theologie des 19. Jahrhunderts. Und er stellt mit der Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Theologie ein Thema in den Mittelpunkt, zu welchem eine konfessionell orientierte Theologie auch im Zeitalter der Postmoderne ihren eigenen Beitrag einzubringen hat. Arbeitet man dabei konsequent historisch, könnte sich herausstellen, dass die hilfreichsten Ansätze tatsächlich am Anfang und nicht am Ende des 19. Jahrhunderts zu finden sind, nämlich dort, wo man unter Rückgriff auf Einsichten der Reformation und der lutherischen Orthodoxie das metakritische Potential einer schrift- und bekenntnisgebundenen Theologie wiederentdeckte, wie das bei Hamann beispielgebend zu beobachten ist.


Prof. Dr. Armin Wenz, Lutherische Theologische Hochschule Oberursel