Systematische Theologie

Jürgen Werbick: Theologie anthropologisch gedacht

Jürgen Werbick: Theologie anthropologisch gedacht,Freiburg: Herder, 2022, geb., 452 S., € 48,–, ISBN 978-3-451-39265-8


Die Anthropologie ist eines der Urthemen, nicht nur, aber auch der Theologie. So sammelte Georg Brunold in seinem Handbuch der Menschenkenntnis. Mutmaßungen aus 2500 Jahren, Berlin: Galiani, 2018 anthropologische Beobachtungen, Mutmaßungen und Spekulationen aus 2500 Jahren. Und Bernd Janowski eröffnet seine Anthropologie des AT. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen: Mohr, 2019, 1 mit folgendem Satz: „Die Frage nach dem Wesen des Menschen spielt in den meisten Kulturen eine zentrale, jeweils unterschiedlich akzentuierte Rolle“.

Werbick ist ein seit 2011 emeritierter Münsteraner katholischer Fundamentaltheologe. In dem hier anzuzeigenden Werk beschäftigt er sich mit der Anthropologie. Zentral für sein Verständnis sind die „Einleitung“ und das erste der insgesamt zehn Kapitel, denn dort positioniert er sich mehrfach. Einer der Hauptsätze lautet: „Es geht um den ganzen Menschen!“ (17) – aber nicht anthropozentrisch, naturalistisch, szientistisch oder sonst wie verkürzt. Mit Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg. Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs, Stuttgart: Urachhaus, 1967, 54 sagt Werbick: „Ganz wird der Mensch, wenn er wahrnehmen darf, dass ‚mein ganzes Dasein zum Werkzeug wird für das in mir, was mehr ist als ich‘“ (22f).

Werbick setzt sein Werk, die christliche Theologie und die (säkularen) Anthropologien derart ins Verhältnis, dass sie sich idealerweise gegenseitig befruchten, aber auch in Frage stellen (10–12). Die Metapher vom Gewebe aufgreifend hofft er, dass Glaubens-Wahrheiten „eingewoben werden in anthropologische Diskurse und Einsichten“ (11).

Werbick versieht sein Buch mit den folgenden Kapitelüberschriften: „Der ganze Mensch“, „Körper und Geist“; „Freiheit und Bindung“, „Selbstbewusstsein-Selbstgefühl-Identität“, „Lieben: Worüber Größeres nicht erlebt werden kann“, „Wirklichkeits-offen, Wahrheits-bezogen“, „Leibhaft: geburtlich und sterblich“; „Das Mysterium des Bösen – und seine Überwindung“, „Sprache und Kommunikation“ und „Leben in Fülle“.

Als freundlich gestimmter Leser freut man sich an der Fülle der von Werbick bearbeiteten Felder. Ein (sehr) kritisch, fortschrittlich und gründlich gesonnener Geist würde nach dem ersten Reinlesen vermutlich die Nase rümpfen und erste Kritiken anmelden: Es fehlen allerneueste Fragestellungen, vor allem die nach der KI. Dazu kommen die vielen mit den Fortschritten in Biologie und Medizin verbundenen ethischen Probleme. Man kann auch kritisieren: Werbick fasst zu viele Themen an und verletzt damit den alten Grundsatz non multa sed multum. So ist in Kap. 8 („Mysterium des Bösen…“) kein Wort von der schwierigen Theodizeefrage zu lesen! In einem ganz anderen Kapitel findet man dagegen wertvolle Überlegungen zu Leibniz (234–243). Werbick traktiert das Böse nur mit einigen exegetischen Bemerkungen zu Gen 3 und zur Erbsündenlehre, vor allem als individuelles ethisch-moralisches Problem. Mit Ingolf U. Dalferth, Sünde. Die Entdeckung der Menschlichkeit,Leipzig: EVA, 2020 u. a. sieht er jedoch auch soziale und gesellschaftliche Dimensionen (vgl. 331). Leider fehlt in diesem Kapitel jeglicher Bezug zum Vaterunser („erlöse uns von dem Bösen“) oder ein eschatologischer Ausblick (s. etwa Offb 21,1–4, aber auch schon Ps 85,8–14). – Dass Werbick in Kap. 7 („Leibhaft…“) noch nicht den 2021 erschienenen Entwurf Gregor Etzelmüllers, Gottes verkörpertes Ebenbild. Eine theologische Anthropologie, Tübingen: Mohr berücksichtigte, kann man ihm allerdings nicht vorwerfen.

Am Ende dieses kurzen, mehr exemplarischen Durchganges seien fünf Punkte markiert. (1) Man vermisst Indices zu Bibelstellen und Sachen. Diese mögen bitte in einer 2. Auflage nachgeliefert werden. (2) Die Anmerkungsziffern sind extrem klein gedruckt. (3) Werbick zitiert nur dreimal Thomas von Aquin. Viel häufiger bezieht er sich – durchaus auch kritisch – auf Augustin. Einige Male kommt auch Luther vor; die Aussagen auf den S. 137f und 330f zu Luthers Anthropologie und zur Rechtfertigungslehre wären allerdings ausführlicher zu diskutieren! (4) Die Themen Gottesebenbildlichkeit und Menschenwürde werden gar nicht bzw. kaum berührt. Hier könnte man von Claus Westermann, Genesis. Bd. I: Genesis 1–11. Teil 1: Gen 1–3, BKAT I/1,Neukirchen-Vluyn: Neukirchener, 1974, 4. Aufl. 1999, 217, anthropologisch Elementares lernen: „Die Erschaffung des Menschen zielt … auf ein Geschehen zwischen Gott und Mensch“; und ebd.: „der Schöpfer schuf ein Geschöpf, das ihm entspricht, zu dem er reden kann und das ihn hört“ (5). Der Ursprung des oben genannten Entwurfs von Etzelmüller liegt im Heidelberger Marsilius-Projekt ‚Verkörperung als Paradigma einer evolutionären Kulturanthropologie‘. Sein Gegenüber sind Vertreter der Naturwissenschaften. Werbicks Buch scheint mir demgegenüber mehr nach innen gewandt zu sein, also zu Theologie und Kirche hin. Und da tut es einen sehr guten Dienst und wird hoffentlich umfassend rezipiert werden.


Dr. Gerhard Maier, Pfarrer i. R., Neuffen