Systematische Theologie

Gesine Domröse: Religiosität in säkularen Gesellschaften. Zur Synthese von Freiheit und Religion in Europa

Gesine Domröse: Religiosität in säkularen Gesellschaften. Zur Synthese von Freiheit und Religion in Europa, Frankfurt am Main: Campus, 2023, kt., 192 S., € 38,–, ISBN 978-3-5935-1677-6


Welchen Platz hat die Religion legitimerweise in den säkularisierten Gesellschaften Europas? Gesine Domröse ist freiberufliche Autorin bzw. Philosophin und legt mit Religiosität in säkularen Gesellschaften ihre Dissertation an der TU Dortmund vor. Die Monografie hat eine philosophisch-politikwissenschaftliche Ausrichtung, greift aber auch auf religionssoziologische und kirchliche Fragestellungen zurück, was die Arbeit umso interessanter für Theologen macht.

In dem ersten, einleitenden Kapitel skizziert die Autorin griffig das spannungsreiche Verhältnis von Glaube und Rationalität, von Freiheit und Religion, ebenso von Pluralismus und Toleranz, was ihrer Untersuchung einen hilfreichen Rahmen gibt.

Das zweite Kapitel geht zunächst klärend auf das politische Prinzip der Säkularität und auf seine unterschiedlichen Ausdrucksformen ein, wobei die Leitthese deutlich wird, „dass eine säkulare Gesellschaft das Fundament für gelebte Religionsfreiheit zu sein scheint und nicht notwendigerweise der säkulare Staat“ (31). Anschließend werden die Konzepte von säkularen Weltanschauungen und Gesellschaften beleuchtet, wobei der Begriff der Weltanschauung rehabilitiert und frühere Säkularisierungstheorien kritisiert werden. Statt eines Antagonismus zeigt sich aus Sicht der Forschung, „dass europäische Gesellschaften durchaus säkular und religiös vital sein können, und zwar ohne notwendigerweise der Moderne entsagen zu müssen“ (67f).

In ihrem dritten Kapitel wagt sich die Autorin an eine Tiefenanalyse zur Transformation des Religiösen im Europa der Moderne. Aufbauend auf religionsphilosophischen Grundfragen zum Heiligen fragt sie akteursorientiert danach, welche Gefühle Menschen besonders dem Numinösen entgegenbringen, und ob es heutzutage so etwas wie das immanent Heilige gibt. Dies geht in eine hochspannende Diskussion über das Spektrum einer Sakralisierung des Profanen über, die Hinweise auf das heutige Verhältnis von Religion und Freiheit bietet.

Exemplarisch wendet sich die Autorin dann in einem gesellschaftsphilosophischen Unterkapitel dem Umgang der Menschen mit dem Digitalen zu. Die Stellung und der Einfluss des Internets, der rasende technologische Fortschritt (man denke an die KI-Diskussion) sowie die Sakralisierung von Technik angesichts trans- oder posthumaner Utopien und Erlösungsmotive weisen laut Domröse, trotz aller Immanenz, einen massiven Transzendenzbezug auf. Auch wenn organisierte Religion abnimmt, das Religiöse ist nicht verschwunden. Im Gegenteil: Der beinahe symbiotische Umgang mit dem Digitalen stellt ein philosophisch markantes Beispiel für eine neue, immanente Religiosität innerhalb säkularer Gesellschaften dar. Mit Rückgriff auf die ursprüngliche Forschungsfrage wendet sich Domröse im vierten Kapitel dem Verhältnis von Freiheit und Religion zu.

Aufbauend auf die Analyse engerer und weit gefasster Konzeptionen von positiver und negativer Religionsfreiheit geht die Autorin auf aktuellere Debatten über die Grenzen der Religionsausübung ein (religiöse Beschneidung, Kopftücher im öffentlichen Dienst, usw.). Sie argumentiert verstärkt dafür, dass Freiheit und Religion in säkularen Gesellschaften eine Synthese eingegangen sind und sich dies nicht nur in der Politik, sondern vor allem in der Kultur niederschlägt. Mit Blick auf den letztgenannten Aspekt geht sie im vierten Kapitel der Frage nach, inwiefern sich eine Interdependenz von Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung in Europa finden lässt. Gerade die wirkmächtige Vermengung säkularer Faktoren hat laut Domröse sowohl zur Transformation des Religiösen, als auch zu einer umfassenden Liberalisierung von Religion in Europa geführt, d. h. grundsätzlich „zu einem freiheitsorientierten Verständnis von Religiosität und einer gemäßigten Umsetzung religiöser Dogmen unter Akzeptanz religiös-weltanschaulicher Vielfalt in der Gesellschaft“ (140).

Im Lichte all dieser Überlegungen beschäftigt sich die Philosophin im fünften Kapitel schließlich mit dem Paradox der liberalen Selbstabschaffung. Einerseits ist die Toleranz in säkularen Gesellschaften von höchster Bedeutung, andererseits besteht die Herausforderung einer notwendigen Grenzziehung seitens der Politik und der Gesellschaft angesichts extremistischer Positionen. Zudem fragt Domröse nach der Reichweite der Meinungsfreiheit, z. B. wenn der gesellschaftliche Diskurs mit seinem Aushandeln von Argumenten zersetzend ausgenutzt werden, um die liberale Demokratie zu unterwandern.

Abschließend erörtert die Autorin die Basis säkularer Gesellschaften und betont, dass nicht die Religionsfreiheit die Grundlage für eine freiere Gesellschaft war, sondern erst „das Zusammenspiel aus Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung, auf dem die Synthese von Freiheit und Religion ruht“ (166). Plädoyerhaft spricht sich die Autorin für Religionsfreiheit als Ausdruck einer freiheitsorientierten Lebensgestaltung, für Menschenwürde, Individualität und Pluralismus als Eckpfeiler säkularer heterogener Gesellschaften aus, für die es sich reflektiert und engagiert einzusetzen gilt. Das sechste Kapitel fungiert als Resümee und fasst den Gedankengang sowie zentrale Argumentationen der Studie noch einmal zusammen, wobei am Ende für die Autorin feststeht: „Das Religiöse darf und muss Teil der Öffentlichkeit sein, damit wir als Gesellschaft dem Anspruch der Religionsfreiheit gerecht werden können“ (174).

Welchen Platz hat die Religion legitimerweise in den säkularisierten Gesellschaften Europas? Gesine Domröse nähert sich gekonnt einem spannenden und vielschichtigen Themenfeld, das auch Kirchen, Gemeinschaften und Freikirchen zu einer gewissen Positionierung herausfordert. Dabei geht die Autorin auf philosophische, soziologische, religions- sowie politikwissenschaftliche Dimensionen ein und zeigt nachvollziehbar, welche Grundfragen und Dynamiken hier zu berücksichtigen sind. Ihre Überlegungen zum immanenten Heiligen und der Bedeutsamkeit des Digitalen verdienen darüber hinaus besondere Aufmerksamkeit.

Stellenweise hätte man sich jedoch weitere Vertiefungen und Differenzierungen gewünscht, z. B. wenn religiöse Dogmen nicht als legitime Grundüberzeugungen verstanden, sondern als ideologisch problematisch konnotiert werden. Umgekehrt wird deutlich, in welchem Spannungsverhältnis die politische Säkularisierung und die weltanschauliche Säkularisierung zueinanderstehen. Zwar spricht sich die Autorin für eine gemäßigt säkulare Weltanschauung aus, ansonsten vermeidet sie aber metaphysisch-normative Fragestellungen. Die säkulare Grundausrichtung Europas auf politischer und gesellschaftlicher Ebene sieht sie dank der grundsätzlichen Wahrung von Menschenrechten vor allem ethisch-funktional. Darin erweist sich die Säkularisierung bei Domröse auf der metaphysisch-normativen Ebene aber wiederum als axiomatisch, weil ethisch scheinbar alternativlos.

Inwiefern das Christentum einen positiven Beitrag für die Entwicklung Europas lieferte, inwiefern es überhaupt erst eine weltanschauliche Grundlage für das Verständnis von Menschenwürde, Individualität und Pluralismus bot (vgl. Damien Tricoire, Die Aufklärung, Köln: Böhlau, 2023), und inwiefern das Christentum noch heute einen legitimen Beitrag für die Gesellschaft leisten könnte, ohne sich weltanschaulich säkularisieren zu müssen – dies bleibt den Lesern zur weiteren Klärung selbst überlassen.


Daniel Vullriede, M.A., Dozent am Bibelseminar Bonn und IBEI Rom