Willibald Sandler: Charismatisch, evangelikal und katholisch. Eine theologische Unterscheidung der Geister
Willibald Sandler: Charismatisch, evangelikal und katholisch. Eine theologische Unterscheidung der Geister, Freiburg: Herder, 2021, geb., 360 S., € 28,–, ISBN 978-3-451-38703-6
Willibald Sandler, Prof. für Dogmatik am Institut für Systematische Theologie der Universität Innsbruck, nimmt die Mehr-Konferenz in Augsburg im Januar 2018, veranstaltet vom Gebetshaus Augsburg, und das dort erarbeitete Mission Manifest als Ausgangspunkt, um mit diesem Buch „Potenziale und auch Gefährdungen von charismatischen und evangelikalen Bewegungen sichtbar machen: für die Menschen innerhalb der Bewegung und für die katholische Kirche, wenn sie sich auf diese Bewegung einlässt“ (35). Er tut das in exemplarisch-geschichtlicher Perspektive, kenntnisreich und mit wohlwollender Kritik. Sandlers Darstellung beabsichtigt Brücken zu schlagen und Dialog zu ermöglichen. Dazu dienen die eingestreuten Reflexionskapitel zur theologischen Unterscheidung – mit einer biblisch orientierten „Theologie des Kairos“. Sandlers Fokus auf die von Gott geschenkten Gnadenereignisse (Kairoi) als eschatologische Zeichen für das Gottesreich, lässt ihn grundsätzlich offen auf die Schwerpunkte evangelikaler und charismatischer Bewegungen blicken. Für ihn beruhen die Erfahrungen der Evangelikalen, Pfingstler und Charismatiker auf „authentisch christlichen Gnadenerfahrungen, in denen Gottes Schönheit und Herrlichkeit aufstrahlt“ (248). Zugleich benennt er als Hauptfehler solcher Erneuerungsbewegungen deren überzogenen Optimismus, als ob ein Kairos ewig währen würde.
In drei ausführlichen Teilen entwickelt er durch geschichtliche und begriffliche Klärungen ein Verständnis der evangelikalen (43–100), der charismatischen (101–178) und ihrer affinen innerkatholischen Strömungen (179–218). Sandler nennt bei den evangelikalen Bewegungen den Pietismus der Herrnhuter, den Methodismus und die Heiligungsbewegung, die amerikanischen Erweckungen um Jonathan Edwards und Charles Finney und den Fundamentalismus und Dispensationalismus. Bei den charismatischen Strömungen nennt er die Anfänge in den USA um 1900, die „Katastrophe“ um die Ereignisse in Kassel und die Berliner Erklärung, den charismatischen Neuaufbruch nach dem 2. Weltkrieg, die Dritte Welle, die Prophetenbewegung und den Toronto-Segen. Auch wenn diese geschichtlichen Eckpunkte in der jüngeren Kirchengeschichte reichlich bekannt sein dürften, so setzt Sandler im Zuge seiner Kairos-Theologie immer wieder bedenkenswerte theologische Reflexionspunkte, beispielsweise die Folgen calvinistischer bzw. wesleyanischer Soteriologie für die Fragen um Bekehrung, Heiligung und Geistestaufe.
In einem weiteren Teil (219–304) setzt sich Sandler im Einzelnen mit den Thesen des Mission Manifest auseinander (dabei fehlt die These 9). Einerseits relativiert er Angriffe der Gegendarstellung Einfach nur Jesus? Eine Kritik am „Mission Manifest“, herausgegeben von Ursula Nothelle-Wildfeuer und Magnus Striet (Freiburg: Herder, 2018). Andererseits zeigt er einseitige Betonungen des Mission Manifest auf und will sie durch einen weiten theologischen Kontext auffangen und für das kirchliche Leben fruchtbar machen. Ein wiederkehrendes Motiv ist dabei der erwähnte Kairos. Sandler sieht in der Theologie des Mission Manifest die Tendenz, die geschenkten Gnadenerfahrungen im Schon-Jetzt zu verstetigen. Dagegen betont er den Wert der Flauten, die einer Hoch-Zeit folgen. „Jeder ‚Kairos‘ – ob lang oder kurz, groß oder klein – hebt sich ab von Phasen einer vergleichsweisen Verborgenheit Gottes davor und danach“ (312). In den Zeiten nach solchen Gnadenereignissen gelte „nicht sehen und doch glauben“. Diese Perspektive bewahre vor einem triumphalistischen Missionsverständnis. Weiter stellt Sandler eine evangelikale Bekehrungs-Mission in Bezug zur „Diskretion und Gastfreundlichkeit Jesu“, der als Weltenrichter auch die unbewusste Zuwendung zu ihm im geringsten Bruder anerkennt. So fragt er: „Beschränkt sich das, was Christen … teilen und … mitteilen, auf die Jesusbotschaft, oder ist sie auch offen für die umfassende Tragweite dieser Jesusbotschaft, einschließlich konkreter Hilfe und Unterstützung der Angesprochenen in ihren schwierigen Lebenslagen?“ (253). Den hohen Stellenwert des Gebets beim Mission Manifest verteidigt Sandler gegen eine „Freiheits-Theologie“ (Pröpper-Schule), wonach sich Gott darauf beschränke, die „autonome Freiheit des Menschen zu einer radikalen Selbstbestimmung“ zu ermöglichen. Gebetserhörungen seien demnach passé. Im Zuge einer „mehrperspektivischen Theologie“ formuliert Sandler sein Missionsverständnis: „Es gilt, Menschen und Völkern auf Augenhöhe zu begegnen, ihnen zuzuhören, sich auf ihr Leben einlassen und sich selber davon verstören zu lassen. So dass wir ihnen nicht nur ‚Jesus bringen‘, sondern unter Gottes Führung dazu beitragen können, dass sie sich selbst neu gegeben werden und irgendwann beides ausrufen können: ‚Danke, dass du dich mir gibst‘ und ‚Danke, dass du mich mir gibst‘“ (268).
Überhaupt liegt für den Rezensenten eine der Hauptanregungen des Buches nicht bei den geschichtlichen und theologischen Einzelaspekten, sondern bei der Art, wie Sandler den „Dienst der Theologie“ beschreibt. Als „hörende“ Theologie dient sie der Kirche und den Erweckungsbewegungen. Sie wirkt nicht nur am Schreibtisch, um die Puzzleteile zusammenzusetzen, sondern muss existenziell und „kniend“ errungen werden. „Das geht nicht ohne TheologInnen, die bereit sind, sich und ihre Lieblingsideen auch existenziell zerbrechen zu lassen“ (332). „Sie lassen sich dabei leiten von einer mehr als zweitausendjährigen Erfahrungsgeschichte von Christen, christlichen Gemeinschaften, Kirche – und auch von sich selbst. Und damit betreiben sie wesentlich kirchliche Theologie. Für eine solche Theologie ist es ganz natürlich, die Erfahrungen von geistlichen Bewegungen zu berücksichtigen. Sie wird sie nicht von außen – nach den Maßstäben eines vorgegebenen theologischen Systems – beurteilen, oder jedenfalls nicht nur. Sie wird zugleich davon lernen, neue Puzzleteile gewinnen, die die eigene Theologie bereichern und erneuern – und mit der Theologie das Leben“ (335).
Dieser herausfordernde Ansatz für theologisches Wirken, verbunden mit der soliden geschichtlichen Kenntnis der beschriebenen Erneuerungsbewegungen und ihrer theologischen Reflexion in einer Theologie des Kairos, machen Sanders Buch zu einer bereichernden Lektüre. Dass er darin unverhohlen auch Grundmuster katholischer Theologie vertritt, mag für evangelikale und charismatische Leser befremdlich sein. Dazu abschließend ein Beispiel: Sandler sieht es positiv, wenn ein kirchliches Gewohnheitschristentum durch geistgewirkte Erneuerungserfahrungen aufgebrochen und belebt wird. Im direkten Vergleich lobt er dann die sozusagen objektive Qualität der Gegenwart Christi im Sakrament und schlussfolgert: „Auf diese Weise ist die möglicherweise nicht gefühlte sakramentale Gegenwart Gottes der gefühlten Salbung überlegen – und zwar ohne dass beides zueinander in Konkurrenz stehen würde. Denn die sichere Zusage im Sakrament kann der gefühlten Salbung ein Fundament geben: Ich weiß dann, dass die erlebte Salbung nicht nur ein eindrucksvolles Gefühl ist, sondern die Entfaltung dessen, was Christus uns im Sakrament zugesagt hat“ (324). Der Rezensent neigt hier dazu, „Sakrament“ mit biblischem Gotteswort zu ersetzen und die Anregungen Sandlers weiterzudenken.
Dr. Roland Scharfenberg ist Pfarrer in St. Georgen im Schwarzwald.