Kristian Fechtner: Mild religiös. Erkundungen spätmoderner Frömmigkeit
Kristian Fechtner: Mild religiös. Erkundungen spätmoderner Frömmigkeit, Stuttgart: Kohlhammer, 2023, Pb., 283 S., € 29,–, ISBN 978-3-17-040054-2
Die Säkularisierung bleibt eine Herausforderung für die Kirche, doch lässt sie Religion und Religiosität nicht einfach verschwinden. In Mild religiös geht Kristian Fechtner, Professor für Praktische Theologie und Universitätsprediger an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, einer sporadisch, eher beiläufig gelebten Religion näher auf den Grund.
Der erste Teil des Buches dient als Einstimmung, bei der Fechtner sieben Alltagsszenarien auswertet, in denen Menschen auf den christlichen Traditionsbestand zurückgreifen oder ihn für sich adaptieren. Was sich „als subjektiv praktizierte Religiosität und als spätmoderne Frömmigkeit“ (22) darstellt, deutet er als unscheinbares Christentum. Der zweite Teil macht das Themenfeld aus praktisch-theologischer und sozialwissenschaftlicher Sicht methodisch greifbar. Dazu erörtert Fechtner die Begriffe der Traditionsfrömmigkeit, der spätmodernen Spiritualität sowie der popularen Religiosität, bevor er das Gebet als repräsentatives Frömmigkeitsparadigma behandelt. Zudem diskutiert er die Konzepte der Selbstformung, des Resonanzgeschehens und der Ensembles von Praktiken.
Ausführlicher beschreibt der Autor im dritten Teil konkrete Erscheinungen einer alltagsrelevanten Frömmigkeit in Deutschland – seien sie eher gegenständlich (Engelfiguren, Kerzen, Unfallkreuze), zeit- und ortsgebunden (Kirchenjahr, Weihnachtsfrömmigkeit, österliche Traditionen, Auszeiten und Andersorte), körperlich (Pilgern, Fasten, Yoga) oder klanghaft vermittelt (Religiosität des Musikhörens und der Stimmnutzung).
Abschließend lässt der Autor im vierten Teil seine Ergebnisse Revue passieren und zeigt: (1.) Spirituelle Handlungen sind heute nicht exklusiv religiös motiviert. (2.) Gängige Praktiken einer spätmodernen Frömmigkeit sind „kulturell verankert und plausibilisiert“ (157). Sie haben einen hybriden Charakter, sind mehrdeutig und mit der eigenen Lebenswelt bedeutungsvoll verwoben. (3.) Die Praktiken sind optional und stets dem individuellen Ermessen überlassen.
Was heißt das für die Gemeindearbeit? Der Autor empfiehlt, die Kirche wahrhaft volkskirchlich auszurichten. Sie solle als Kommunikatorin einer institutionalisierten Religion Anregungen geben, um Menschen zu inspirieren und deren milder Religiosität Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Gerade im Resonanzraum kirchlicher Praxis könnten sie eigenständig religiöse Erfahrungen machen, religiösen Sinn finden und gestalten.
Was bedeutet das für die Theologie? Sie habe vor allem eine hermeneutische Aufgabe, um „die Sinngehalte christlicher Überlieferung“ (161) auf die Erlebnisse der Menschen zu beziehen und entsprechend zu deuten. Indem sich die Kirche weitherzig auf die heutigen Frömmigkeitsformen einlasse, entlaste und befreie sie sich von unerfüllbaren Ansprüchen im Kontext der Spätmoderne. Allerdings sei eine so verstandene Frömmigkeitspflege nur eine von vielen Aufgaben, mit denen die Kirche öffentlich relevant bleiben könne.
Mit Mild religiös bietet Professor Fechtner eine kompakte und tiefgehende Auseinandersetzung mit einer spannenden Thematik. Zwar ist die volkskirchliche Perspektive religionssoziologisch nicht überall anwendbar, phänomenologisch gesehen ist sie im vorliegenden Fall aber absolut hilfreich. Seine Methodik ist beispielgebend, die Fallbeispiele sind griffig, der Schreibstil lesefreundlich. So sensibilisiert der Autor seine Leser mit Ernst und Neugierde für ihre kirchenfernen Mitmenschen in ihrer gelebten Religiosität, mit ihren jeweiligen Werten und Vorstellungen. Gleichzeitig lädt er zu einem aufrichtigen Ringen ein und zu einem konstruktiven kirchlichen Umgang mit der gesellschaftlichen Realität.
Problematisch sind nicht so sehr einzelne Seitenhiebe auf Christen aus der evangelikalen Tradition oder mit pietistischem Herzschlag, dafür aber die Deutungen und Impulse in den finalen Kapiteln. Bei normativen Fragen bleibt das Buch eher einseitig bei einer kulturaffirmativen Denkrichtung im Sinne Schleiermachers stehen. Auch wirken Leitbegriffe wie Evangelium, „christliches Wirklichkeitsverständnis und eine christliche Daseinsorientierung“ (161) inhaltlich recht unbestimmt und bleiben unter ihrem Potential für den Diskurs. Nichtdestotrotz legt der Autor einen wichtigen, wertvollen und wegweisenden Titel vor, der zum kritisch-konstruktiven Weiterdenken in Theologie und Praxis einlädt.
Daniel Vullriede, M.A., Dozent am Bibelseminar Bonn und IBEI Rom