Ann-Christin Renneberg / Hilke Rebenstorf: Sozialraumorientierung. Neue Gemeindeformen und traditionelle Gemeinden in der EKD im Vergleich
Ann-Christin Renneberg / Hilke Rebenstorf: Sozialraumorientierung. Neue Gemeindeformen und traditionelle Gemeinden in der EKD im Vergleich, SI-Studien aktuell 3, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2023, br., 96 S., € 29,–, ISBN 978-3-8487-7568-2
Der vorliegende Band der SI-Studien aktuell untersucht auf Grundlage des 2. Kirchengemeindebarometers, das 2020 vom Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD (SI) erhoben wurde, welche Unterschiede mit Blick auf die Sozialraumorientierung bei Fresh X einerseits und klassisch parochial verfassten Gemeinden andererseits auftreten.
Die beiden Verfasserinnen Ann-Christin Renneberg und Hilke Rebenstorf gliedern das Buch in fünf Abschnitte: Nach einer Einleitung, welche die grundlegenden Begriffe sozialer Räume, Sozialraumorientierung und Fresh X erläutert, werden der 2. Kirchengemeindebarometer, die Ergebnisse ihrer Untersuchung sowie die Zusammenhänge zwischen der Zufriedenheit der Gemeinde mit ihrer Lage und ihrem Sozialraum vorgestellt. Abschließend werden die Erkenntnisse gebündelt und Impulse zur weiteren Forschung gegeben.
Die Vf. betonen zurecht, dass es bedauerlicherweise keine klar abgrenzbare Definition von Fresh X gibt, was die Vergleichbarkeit unterschiedlicher Gemeindeformen im Detail m. E. erschwert, da nicht jede neue Gemeindeform eine Fresh X darstellt.
Im Folgenden können nur wenige Erkenntnisse skizziert werden: Institutionelle Kontakte innerhalb des Sozialraums (u. a. Kommune, diakonische Einrichtungen, Organisationen) sind in parochialen Gemeinden deutlich häufiger anzutreffen als bei Fresh X. Diese Gemeindeformen sind in sozial als „prekär“ bezeichneten Kontexten präsent und erreichen eher Konfessionslose, was ihrer meist missionarischen Intention entspricht. Fresh X hat dabei als Zielgruppe, verglichen mit parochialen Gemeinden, eher Singles, Paare und Alleinerziehende im Blick.
Alle untersuchten Gemeinden (also Parochien und Fresh X) haben einen beachtenswerten Zusammenhang aufgezeigt: Je stärker die Ausrichtung auf Familien und Jugendliche ausgeprägt ist, desto zufriedener sind die Gemeinden. Mit Blick auf Fresh X ist dies bemerkenswert, da es sich um „klassische Zielgruppen der Gemeindearbeit“ (74) handelt, was nicht der genuinen Intention von Fresh X entspricht.
Aufgrund der Datenlage (geringe Fallzahl von Fresh X) sind die Ergebnisse nur begrenzt aussagekräftig. Erkennbar ist jedoch der als mixed-economy bekannte Ansatz der Anglikanischen Kirche: Kein Entweder-oder, sondern ein sowohl als auch, da beide Formen von Gemeinde unterschiedliche Anknüpfungspunkte im Sozialraum bieten.
Ein Kritikpunkt: Der Abschnitt zur Konzeption der Sozialraumorientierung ist aus praktisch-theologischer Perspektive zu unkritisch: Der aus der Sozialen Arbeit kommende Ansatz, der den „Wille[n] der Menschen“ ins Zentrum stellt, ist aus theologischer Sicht nicht unproblematisch und müsste reflektiert werden. Die Frage nach dem dezidiert kirchlichen Beitrag, dem Proprium von Kirchengemeinden, das im Kontext des Sozialraumes nicht von einem anderen Akteur der Zivilgesellschaft geleistet werden kann, bleibt nahezu unerwähnt (mit Ausnahme 23f). An dieser Stelle ist auch die häufig anzutreffende Zurückhaltung kommunaler Partner gegenüber einem Engagement der Kirchengemeinde, das über die klassische Soziale Arbeit hinausgeht und den Bezug zum christlichen Glauben expliziert, zu benennen.
Fazit: Die vorliegende Untersuchung liefert erste Erkenntnisse auf einem noch weitgehend nicht erforschten Gebiet. Dies hängt einerseits mit dem nicht kartografierten Feld der Fresh X und andererseits mit der Frage, wie Sozialraumorientierung messbar wird, zusammen (77f). Auch die Frage, welche Konsequenzen für die Ausrichtung der entsprechenden Gemeinden, angezeigt sind, bleibt (noch) ein Desiderat.
Andreas Schmierer, Pfarrer der Württ. Landeskirche und Studienassistent im Albrecht-Bengel-Haus, Tübingen