Ingolf Hübner / Sonja Keller / Kristin Merle / Steffen Merle / Thorsten Moos / Christopher Zarnow (Hg.): Religion im Sozialraum. Sozialwissenschaftliche und theologische Perspektiven
Ingolf Hübner / Sonja Keller / Kristin Merle / Steffen Merle / Thorsten Moos / Christopher Zarnow (Hg.): Religion im Sozialraum. Sozialwissenschaftliche und theologische Perspektiven, Stuttgart: Kohlhammer, 2023, kt., 276 S., € 39,–, ISBN 978-3-17-042639-9
Keine Frage: Religion ist immer auch meine Religion. Aber neben der persönlichen Dimension hat Religion, haben Glaube und Spiritualität, immer auch eine mehr oder weniger ausprägte soziale Dimension. So gibt es selbst das Glaubensbekenntnis sowohl in der Ich-Form (Apostolicum) als auch in der Wir-Form (Constantinopolitanum). Wissenschaftlich formulierte dies erstmals der amerikanische Religionssoziologe Charles Y. Glock (1919–2018) sehr treffend. Er unterschied nämlich fünf Dimensionen von Religion: die (persönliche) Erfahrung, Glaubenssätze/Bekenntnisse, Wissen/Lehre, Riten und schließlich das alltägliche Verhalten, die Ethik.
Die beiden Begriffe Religion und Sozialraum sind sich also der Sache nach nicht fremd, sondern sie sind ab ovo miteinander mannigfach verknüpft. Das wording des ich- und des wir-Raumes veränderte sich allerdings immer wieder. Lauteten sie früher nur Staat/Land, Stadt und Dorf, so wurden die Lebensräume der Menschen in der Gegenwart diversifizierter. In ihrem Geleitwort nennen Annette Kurschus und Ulrich Lilie außerdem Quartier, Nachbarschaft und Kiez.
Auf dem rückseitigen Buchdeckel des hier anzuzeigenden Buches steht als erster Satz: „,Sozialraum‘ und ,Sozialraumorientierung‘ sind zu prägenden Leitbegriffen geworden …“. Dem entspricht der erste Satz in der Einleitung: „Die Rede vom ,Sozialraum‘ und der ,Sozialraumorientierung‘ hat in den Foren von Diakonie und verfasster Kirche sowie in diakoniewissenschaftlichen und vermehrt auch in theologischen Diskursen Konjunktur“ (7). Insgesamt 20 Autoren und Autorinnen (sie werden auf der letzten Seite vorgestellt) führen in diese neue Begrifflichkeit aus den Blickwinkeln der Sozialwissenschaften, der Soziologie, Theologie und Diakonie ein. Das Buch ist also interdisziplinär angelegt. Im Vw. werden die 20 Beiträge inhaltlich von den Hg. kurz beschrieben. In meiner Rezension möchte ich vor fünf abschließenden Bemerkungen exemplarisch drei Beiträge hervorheben.
Ingrid Breckner („Theorie und Geschichte der Sozialraumforschung“) beginnt ihren Beitrag mit der Feststellung, dass Sozialraumforschung „durch unterschiedliche theoretische Konzepte geprägt wurde und sich in einem breiten Spektrum empirischer Studien im In- und Ausland manifestierte“ (15 umgestellt). Am Ende sagt sie, dass Sozialraumplanung allgemein anerkannt wird, „dies jedoch keineswegs bedeutet, dass sich verbindliche Konzepte der Sozialraumforschung durchgesetzt hätten.“ (20 umgestellt). Man muss also genauer hinschauen!
David Hörsch sieht in dem Begriff „Sozialraum“ erstmal einen nebulösen Containerbegriff. Er skizziert dann eine „Theologie des Mitseins“ und weist den Kirchengemeinden S. 123 mit der Netzwerkperspektive der V. KMU einen polyzentrischen und poly-pleripheren Platz im sozialen Miteinander zu. Demnach ist vieles, ja alles, offen und in Bewegung.
Thorsten Moos weist auf einen m. E. sehr interessanten Aspekt jeglichen Raumbezuges hin. „Insbesondere die mystische Tradition hat die Raumlosigkeit des Religiösen stark gemacht. Dieser spannungsvolle Raumbezug der Theologie findet wiederum in der kirchlichen Organisation seine Entsprechung, etwa wenn eine Parochialgemeinde durch eine internationale Partnerschaft gezielt ihre eigenen räumlichen Grenzen überschreitet“ (29).
Wie oben angekündigt abschließend die folgenden fünf Bemerkungen: (1) Natürlich ist nicht in jedem Beitrag in gleicher Weise der Bezug zu Kirche und Diakonie gegeben. (2) Leider werden die im Geleitwort genannten Stichworte Megatrends, Globalisierung und Digitalisierung nirgendwo aufgenommen. Keiner der Beitragenden reflektiert das Internet mit seinen vielen Möglichkeiten (beispielsweise in Chats, Foren u. a. social media) als einen neuen, virtuellen Raum, in dem auch das Christsein eine anders konturierte Gestalt finden wird. Beispielsweise stellt sich bei LinkedIn jemand so vor: „I am a Christian Digital Cosmopolitan.“ (3) Am Ende eines jeden Beitrages wird die verarbeitete oder nur zitierte Literatur genannt, wodurch sich also vielfältige Möglichkeiten der Vertiefung und Weiterarbeit eröffnen. (4) Sehr negativ fiel mir auf, dass überhaupt keine Indices vorhanden sind. (5) Im Geleitwort begrüßen die Spitzen von EKD und Diakonie auf S. 14 es ausdrücklich, dass sie in ihrem Sein und Tun wissenschaftlich begleitet und diskutiert werden. Will diese Äußerung nicht im Außen kirchlichen und diakonischen Lebens verhallen, so sind diese Beiträge auf allen Ebenen wahrzunehmen und zu diskutieren.
Pfarrer i. R. Dr. Gerhard Maier, Neuffen