Rachel B. Griffith / Julie Ooms / Rachel M. De Smith Roberts: Deep Reading
Rachel B. Griffith / Julie Ooms / Rachel M. De Smith Roberts: Deep Reading. Practices to Subvert the Vices of Our Distracted, Hostile, and Consumeristic Age, Grand Rapids/MI: Baker Academic, 2024, Pb., 230 S., $ 24,99, ISBN 978-1-54-096695-7
„A book for all readers who desire to read deeply and to live deeply“ ist der claim auf der Buchrückseite – und er trifft zu. Verfasst von drei Englisch-Professorinnen, die sich wohl während ihrer gemeinsamen Ph.D.-Studien an der Baylor University anfreundeten, zeigt sich hier ein gut lesbares Büchlein, das all denen aus dem Herzen und ins Herz spricht, die sich nach einer anderen (besseren?) Lesekultur bei sich und anderen sehnen. Dass dies in unseren westlichen Gesellschaften immer schwieriger geworden ist, liegt auf der Hand. Wie wir jedoch dorthin zurückkommen oder besser: dort hingelangen, wird in Deep Reading angedacht und praktisch exemplifiziert. Zu hoch gegriffen scheint jedoch der Anspruch, es sei ebenso wichtig, „deep reading practices“ zu kennen „as much as what they read“ (2).
Das Ziel des Buches ist es, mit einleuchtenden Praktiken gegen die aktuellen negativen Trends von „distraction, hostility, and consumerism“ (6–7 u. ö.), das Lesen zu einem transformationalen Geschehen werden zu lassen bzw. es als solches wiederzubeleben. Das Ziel desselben entspricht in etwa James K. A. Smiths und Karen Swallow Priors Vorstellungen von einer charakterlichen Veränderung hin zum ‚guten Leben‘ durch habituelle Lektüre und Internalisation von ‚guten‘ Büchern. „Our research and experience points to the conclusion that deep reading itself […] trains us in the practices necessary to eschew the vices and develop a virtuous disposition“ (7).
Aufgeteilt in die erwähnten drei Bereiche „Distraction“ (25–77), „Hostility“ (81–139) und „Consumerism“ (143–202) ergründen die Autorinnen zentrale Erwägungen im Bereich des Lesens. Dabei steht aber, anders als man im Untertitel (Stichwort „Practices“) und ersten Kapitel erwarten würde, weniger die Verzahnung von Dos und Don’ts im Zentrum, sondern das solitäre und kommunale Leseereignis im Seminarraum oder in anderen Gruppen.
Durchgehend bemerkt man die Sensibilität der Autorinnen für Settings, für tendenziöse Vorannahmen und einseitige Leselisten. Viel öfter als wirkliche Vorschläge für den eigenen Leseprozess liest sich das Buch als Kritik westlich-akademischer Lesegewohnheiten mit dem Ziel, diese zu transformieren. Ein gewisser Aktivismus, in jeglicher Hinsicht inklusivere Autoren, Leser und Lesegemeinschaften zu bilden und sich der eigenen Voreinstellungen und blinken Flecken bewusst zu sein, lässt sich durchweg erkennen. So leitet das Buch nicht schlicht in einen oder mehrere andere Lesemodi ein bzw. dazu an, sondern will vielmehr das eigene und das gemeinschaftliche Lesen zu einem ganzheitlich-verändernden Prozess machen. Insgesamt ist der Ansatz des Buches stark von James K. A. Smiths habitueller Moralvorstellung geprägt (You are what you love [2016]), das in seiner Triologie zu den Cultural Liturgies (2009, 2013, 2017) differenzierter entfaltet und reflektiert wird. Ob dieser jedoch mit dem weltanschaulichen Ziel des Buches übereinstimmen würde, bleibt fraglich.
Didaktisch angenehm finden sich hilfreiche Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels, die einerseits gute Erinnerungsstützen für die umzusetzenden praktischen Übungen bieten, andererseits aber auch weiterführende Fragen zu persönlichen oder gruppengebundenden Reflexion bieten.
Der genannte Aktivismus für mehr Inklusion, Gleichberechtigung und Sensibilität, wie sie heutzutage die große Mehrzahl der English-Literature-Abteilungen in den Humanities-Fakultäten vertreten, wird zwar wiederkehrend wohlwollend und nachdrücklich thematisiert, eine eigentliche Argumentationsgrundlage für diese durchaus diversen Themen finden sich aber nicht. Teil dieser sehr sensiblen Herangehensweise an den akademischen Unterricht in den Geisteswissenschaften, der hier vertreten wird, ist auch die wiederkehrende Distanzierung von Klassikern wie How to Read a Book von Adler/Van Doren. Obwohl freilich die Autoren in einer anderen Zeit und für einen anderen Zweck schrieben, scheint gerade die Abgrenzung davon, identitätsstiftende Züge anzunehmen (vgl. bspw. 11–12, gegen das „consumeristic reading mindset of Adler and Van Doren“). In der Einleitung schreiben sie gegen die empfohlene Leseliste von Adler/Van Doren: „we seek here to explore not the correct content for careful reading but rather the habits and practices that lead deep and formative reading“ (1). Doch gerade das tun Adler/Van Doren in ihrem nach wie vor hervorragenden (S. 11 dagegen: „infamous“) Buch, mittlerweile in vielfacher Auflage. Ihre Leseliste ist ebenso wie in vergleichbaren Werken seitdem nur ein Appendix von Vorschlägen. Man meint, diese Einleitung antizipiere schon, für eine normative, absichtlich westlich (jedoch nicht ausschließlich!) orientierte Leseliste „gecancelt“ zu werden (auch deutlich auf S.2!) und distanziert sich (unnötigerweise) von den Schultern, auf denen das Buch steht.
Als Konsequenz daraus vermisste der Rezensent an mehreren Orten eine stärke Orientierung auf das selbst gesetzte Thema des „Deep Reading“, das zwar immer wieder mitschwingt, aber was genau mit „deep“ gemeint ist, welche Anleihen und Differenzen etwa zum „Deep Work“-Ansatz von Cal Newport (2016) bestehen usw., bleibt bis zuletzt unklar. Es wirkt, als sei dieses Ziel über die Kapitel hinweg immer wieder etwas aus den Augen geraten. Erst gegen Ende, wenn etwa „Learning to Read for Enjoyment“ (175–201) thematisiert wird, kommt man dem Ziel einer neuen Lesekultur wieder näher.
Etwas langatmig ist das Buch nicht nur wegen seines mancherorts wenig erkennbaren roten Fadens, sondern auch aufgrund des repetitiven Stils. Ein einfacher Punkt, etwa der Nutzen lauten Lesens, wird in einem Zweizeiler konstatiert und anschließend auf gut zwei Seiten voll spezifischer Beispiele wieder und wieder exemplifiziert (48–50).
Summa: Deep Reading geht m. E. korrekt davon aus, dass die digitale Revolution auch das Lesen verändert hat und das größtenteils nicht zum Guten. Dagegen votieren die Autorinnen für eine neue Herangehensweise, die sensibler, inklusiver und konversationaler mit geschriebenen und gesprochenen Worten der Vergangenheit und Gegenwart umgehen will. Diversität und Selbstreflexion nehmen hierfür eine zentrale Stellung im Buch ein. Daneben kommen auch die im Untertitel angekündigten Umsetzungshilfen für das Deep Reading immer wieder in den Blick. Andersherum gewichtet hätte man womöglich mehr Ertrag erreicht. Wer sich ein Manual für eine veränderte Lesekultur erhofft hat, wird hier nur bedingt fündig. Wer ein stark im nordamerikanisch-akademischen Raum angesiedeltes Plädoyer für veränderte, diversere und reflektiertere Leseerlebnisse und -räume mit einigen Umsetzungstipps gesucht hat, wird hier fündig werden.
Magnus Rabel, M.Th., Doktorand bei Prof. Dr. Jörg Frey am Lehrstuhl für neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Zürich