Neues Testament

Sydney Tooth: Suddenness and Signs

Sydney Tooth: Suddenness and Signs. The Eschatologies of 1 and 2 Thessalonians, WUNT II/610, Tübingen: Mohr Siebeck, 2024, kart., 251 S., € 89,­­–, ISBN 978-3-16-163563-2


Sydney Tooth ist Director of Postgraduate Studies & Lecturer in New Testament and Greek am Oak Hill College in London und hat in der vorliegenden Arbeit eine leicht überarbeitete Fassung ihrer 2020 an der University of Edinburgh abgeschlossenen Dissertation vorgelegt. Darin vergleicht sie die Eschatologien der Thessalonicherbriefe, um sie auf ihre Kompatibilität und Kohärenz zu befragen. Der Titel der Arbeit benennt die Spannung zwischen den unterschiedlichen Schwerpunkten der beiden Briefe: Während im 1Thess die Plötzlichkeit (suddenness) des Tags des Herrn und der Parusie Jesu betont wird, stehen im 2Thess die Zeichen (signs), die deren Eintreffen vorausgehen, im Vordergrund.

Die eigentliche Untersuchung besteht im Wesentlichen aus fünf kompakten Teilen:

1. Eschatologie des 1Thess (45 Seiten)

2. Eschatologie des 2Thess (41 Seiten)

3. Vergleich der beiden Eschatologien (19 Seiten)

4. Gemeinsame eschatologische Tradition (26 Seiten)

5. Einleitungswissenschaftliche Fragen (38 Seiten)

Die Verfasserin stellt die umstrittene Frage der Verfasserschaft bewusst ans Ende der Arbeit, um nicht durch eine Vorentscheidung bestimmte Interpretationsmöglichkeiten der eschatologischen Texte in den beiden Briefen unberücksichtigt zu lassen. Folgerichtig erwähnt sie an vielen Stellen die sich aus den unterschiedlichen Positionen zur Verfasserfrage ergebenden Konsequenzen für die Auslegung, ohne sich selbst bereits auf eine Position festzulegen (z. B. 97–99).

Im ersten Kapitel werden zwei längere (1Thess 4,13–18 und 5,1–11) und fünf kürzere eschatologische Texte (1Thess 1,9–10; 2,13–16; 2,19–20; 3,13 und 5,23–24) analysiert. Dabei werden die wesentlichen Interpretationsmöglichkeiten zu den für die Thematik wichtigen Auslegungsfragen äußerst prägnant dargestellt und beurteilt. Tooth plädiert dafür, nicht einseitig den Hintergrund in griechisch-römischen, alttestamentlichen oder frühjüdischen Schriften zu suchen, sondern deren Bildmaterial ergänzend heranzuziehen. Somit sei die Rede von der Parusie nicht einseitig als Kritik am Imperium zu lesen, aber doch als königlicher Empfang, der sich aufgrund der jüdischen Bilder (Trompete, Wolken) auf das Kommen Gottes bezieht (47–48). Mit John Barclay weist Tooth auf den Unterschied zwischen der Parusie (4,13–18) und dem Tag des Herrn (5,1–11) hin. Dieser Unterschied sei jedoch nicht zeitlich, sodass von zwei verschiedenen Ereignissen gesprochen werde, sondern beziehe sich auf Aspekte desselben Ereignisses (52–56).

Im zweiten Kapitel werden die zwei eschatologischen Abschnitte 2Thess 1,3–12 und 2,1–12 untersucht. Weil mehrere Ausleger auch hinter der in 2Thess 3,6–15 verhandelten Thematik einen eschatologischen Hintergrund vermuten, geht die Verfasserin im Anschluss auch noch auf diese Argumentation ein, lehnt einen eschatologischen Bezug letztlich jedoch ab. Neben vielen Einzelheiten widmet sich Tooth auch der die Auslegung bestimmenden Frage, weshalb bei den Empfängern das Gerücht aufgekommen ist, dass der Tag des Herrn bereits gekommen sei (2Thess 2,2). Auch hier schließt sie sich im Wesentlichen John Barclays Vorarbeit an, der als Hintergrund eine lokale Katastrophe (z. B. Erdbeben, Hungersnot oder Krieg) vermutet, die von den Gläubigen als Gottes Gericht und somit als Tag des Herrn gedeutet worden sei. Weil aber die Parusie ausblieb, sei in der Gemeinde Angst ausgebrochen (89). Daneben weist Tooth immer wieder darauf hin, dass die Antwort des 2Thess viele Bezüge zur synoptischen Tradition (Mk 13par) und Daniel 7–12 enthält. So deutet sie auch das/der Aufhaltende (τὸ κατέχον/ὁ κατέχων) in 2Thess 2,6–7 mit Colin Nicholl auf den in Daniel 12,1 erwähnten Erzengel Michael.

Die in der Forschung geläufige Argumentation gegen die Echtheit des Zweiten Thessalonicherbriefs enthält in der Regel auch einen Hinweis auf die Unterschiede in der Eschatologie zum Ersten Thessalonicherbrief. Während hier zur Naherwartung und einer ständigen Bereitschaft aufgefordert werde, rücke dort ein Fahrplan von vorausgehenden Ereignissen das Ende in weite Ferne. Nachdem Tooth einige prinzipielle Überlegungen zur Aussagekraft von Vergleichen zweier Texte anbringt, stellt sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Eschatologien in fünf Bereichen dar: 1. Terminologie, 2. Terminierung, 3. Eschatologische Geschicke, 4. Mittlerschaft und 5. Umstände der Abfassung. Hier sei nur kurz eine Diskussion zur Terminierung erwähnt: Während Bart Ehrman und andere die prinzipielle Inkompatibilität der Plötzlichkeit (1Thess) und den vorausgehenden Zeichen (2Thess) postuliert, argumentiert Tooth, dass die Wiederkunft Jesu auch in 1Thess nur für Ungläubige unerwartet kommt, nicht aber für Gläubige. Somit seien in den beiden Briefen verschiedene Akzente aufgrund der verschiedenen Problematik gesetzt. Da sich hier wie auch sonst die Unterschiede auf die jeweilige Situation der Briefe und nicht auf deren Theologie beziehen, stellt Tooth in allen fünf Bereichen eine Kompatibilität zwischen 1Thess und 2Thess fest.

Hinter der inhaltlichen Spannung zwischen der Betonung der Plötzlichkeit in 1Thess und dem Hinweis auf vorausgehende Zeichen in 2Thess sieht Tooth einen Zusammenhang zur synoptischen Tradition, dem sie im vierten Kapitel auf den Grund geht. In Mk 13,7 und Mt 24,6 findet sich dieselbe Vokabel (θροέω = erschrecken) in demselben Zusammenhang wie in 2Thess 2,2. Viele weitere Parallelen (z. B. das Bild vom Dieb in der Nacht) werden aufgezeigt und anschließend evaluiert, welche literarische Abhängigkeiten diese Parallelen erklären könnten. Abschließend argumentiert Tooth (in Anlehnung an David Wenham), dass eine vorsynoptische Endzeitrede die gemeinsame Grundlage der Thessalonicherbriefen und Mk 13par bilde.

Am Ende der Arbeit steht die bewusst zurückgestellte Frage nach der Verfasserschaft. Hier diskutiert Tooth verschiedene Beurteilungen der Echtheit beider Thessalonicherbriefe aufgrund der bisher in der Forschung angeführten Argumente. Dabei geht sie verschiedene mögliche Konstellationen durch: 1. zwei pseudonyme Briefe; 2. pseudonymer 1Thess, authentischer 2Thess; 3. authentischer 1Thess; pseudonymer 2Thess; 4. zwei authentische Briefe. Ihr Fazit besteht darin, dass keiner der Einwände die Echtheit der Briefe beweisen oder widerlegen kann. Ausschlaggebend sei stattdessen, für welches Szenario ein überzeugender «Sitz im Leben» rekonstruiert werden könne. Hier beurteilt sie die bereits erwähnte Argumentation von John Barclay, dass die Empfänger eine lokale Katastrophe als Tag des Herrn missverstanden haben, als beste Option und sieht daher die Echtheit des 2Thess als bestätigt.

Es sind zwei eher unbeliebte Themen der Paulusforschung (Eschatologie und Authentizität), deren sich Sydney Tooth in ihrer konzentrierten Arbeit angenommen hat. Ihr besonderer Verdienst liegt darin, dass sie die Eschatologien der beiden Thessalonicherbriefe zuerst unter Ausklammerung der Frage nach der Verfasserschaft vergleicht und nach den besten Erklärungsansätzen für die hierbei gemachten Beobachtungen sucht. In den Einzelanalysen baut Tooth primär auf bestehende Beiträge auf, modifiziert diese jedoch meistens und fügt sie zu einem kohärenten Gesamtbild zusammen. Dadurch kann sie zeigen, dass die Eschatologien der beiden Thessalonicherbriefe grundsätzlich kompatibel sind. Der größte Unterschied besteht zwischen der Plötzlichkeit der Wiederkunft Jesu nach 1Thess und den vorausgehenden Zeichen in 2Thess. Diese Spannung setzt aber gerade nicht voraus, dass die Briefe unterschiedlichen Verfassern mit unterschiedlichen Theologien zugeschrieben werden müssen, findet sie sich doch ebenfalls in ein und derselben Rede der synoptischen Tradition.


Dr. Daniel Gleich, Dozent für Neues Testament, Theologisches Seminar St. Chrischona (tsc)