Anni Hentschel: Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium
Anni Hentschel: Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium: Ein Beitrag zur johanneischen Ekklesiologie, WUNT 493, Tübingen: Mohr Siebeck, 2022, geb., 434 S., € 154,–, ISBN 978-3-16-161219-0
Die Szene über die Fußwaschung Jesu gehört zu den „rätselhaftesten“ Texten des Neuen Testaments. Die neutestamentliche Forschung ist sich bei der Deutung uneinig. Anni Hentschel (Evangelische Hochschule Freiburg) hat acht unterschiedliche Zugänge systematisiert und 32 Entwürfe diskutiert. In ihrer 2020 von der Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommenen Habilitationsschrift legt sie eine ‚neue‘ Interpretation vor.
Die Monografie folgt einem überzeugenden Aufbau. Es werden zunächst die Deutungsbeispiele seit dem 19. Jh. kritisch gewürdigt (Kap. 1). Danach gibt sie Rechenschaft über ihre eigene Vorgehensweise (Kap. 2). Hentschel gehe es in ihrer Arbeit darum, „wie die Fußwaschungserzählung durch ihre spezifische Einbettung und Gestaltung im Johannesevangelium verstanden werden kann“, wobei sie konsequent vom Endtext ausgehen möchte (76).
Ihren Beitrag in dieser Monografie sieht sie zweifach begründet: Zum einen möchte Hentschel mittels der kulturellen Bezüge das Bedeutungsspektrum der Fußwaschung noch gründlicher als bisher beleuchten, die intertextuell relevanten synoptischen Texte einbeziehen und den bisher zahlreichen Deutungen „eine weitere hinzufügen, welche einen neuen, hoffentlich ebenso spannenden wie weiterführenden Diskussionsbeitrag zur Ekklesiologie des Johannesevangeliums darstellt“ (1f). In ihrer Monografie sucht sie die Bedeutung der Fußwaschung „primär im Text des Johannesevangeliums“ (87). Methodisch greift Hentschel den von Hartwig Thyen favorisierten intertextuellen und rezeptionsästhetischen Zugang auf und führt diesen fort (90–122). Sie folgt der Hypothese, Johannes habe die anderen Evangelien gekannt und er habe in seinem Werk intertextuelle Bezüge gesetzt (95).
Es folgt die Fußwaschung in der Antike als mögliches kulturelles Setting (Kap. 3). Hentschel sucht nach zentralen Bedeutungsaspekten der Fußwaschung als alltägliche kulturelle Praxis. Dabei gehe es ihr um zentrale Belege antiker Praxis, nicht ein Zusammentragen aller Belege auf quantitativer Ebene (126). Sie beobachtet, dass die Fußwaschung alltäglich war, von Sklaven und Sklavinnen verrichtet wurde, aber nicht per se mit einem Sklavendienst konnotiert ist. Im Kontext der Gastfreundschaft gehört es zum guten Ton, dass der Gastgeber dafür sorgt. An ein Vollbad konnten sich Teilwaschungen anschließen. Die Fußwaschung konnte freiwillig von freien Personen durchgeführt werden (Abraham). Im vertrauten familiären Bereich ist sie ein Liebes- und Ehrerweis, bis hin zu erotischen Konnotationen in intimen Beziehungen. Nur beim Erzwingen einer Fußwaschung ist diese Handlung mit einer Erniedrigung des ausführenden Subjekts belegt (195–197).
Die Perikope der Fußwaschung (Joh 13,1–20; Kap. 5) sieht die Verfasserin umrahmt von Marias Salbung der Füße Jesu (Joh 12,1–11; Kap. 4) und der Weinstockperikope (Joh 15,1–17; Kap. 6). Eine Analyse der Fußwaschungsszene allein wäre unzureichend, da diese mit anderen Texten (Joh 13,31–38; 15,20 u. a.) verwoben ist. Weil die Salbung der Füße Jesu durch Maria (Joh 12,1–8) wie eine „Vorausdarstellung der Fußwaschung“ wirkt und im Sinne eines „primary effects beinflusst“, wird Joh 12,1–8 zuerst analysiert. Der Text aus Joh 15,1–17 wirkt auf die Szene zurück und wird daher ebenfalls analysiert (199f). Mit etwa 105 Seiten bleibt die Analyse von Joh 13,1–20 jedoch der Schwerpunkt. In Kapitel 7 werden alle Ergebnisse transparent und nachvollziehbar zusammengefasst.
Die bisherige johanneische Forschung ist von zwei grundlegenden Annahmen geprägt. (1) Die Fußwaschung Jesu wird als Dienst oder Sklavendienst mit dem Ziel der Reinigung interpretiert (369f). (2) Es werden für Joh 13,6–11 und Joh 13,12–20 zwei unterschiedliche Deutungen angenommen, die irgendwie zueinander in Beziehung stehen.
Diesen Forschungskonsens stellt Hentschel in Frage. Zum einen kann es sich nicht um einen Akt der Gastfreundschaft zum Zweck der Reinigung handeln, da Jesus und die Seinen sich kaum mit schmutzigen Füßen zu Tisch gelegt hätten (375). Es handelt sich vielmehr um eine Lehrer-Schüler-Zusammenkunft. Das Überraschende ist, dass der Lehrer die mit Ehre verbundene Handlung an seinen Schülern vollzieht (375). Eine ähnliche vorbildhafte und von Liebe geprägte Handlung hatte „Maria als geliebte Schülerin Jesu“ vollzogen (375f).
Zum anderen ist die Fußwaschung Jesu eine zeichenhafte Handlung im vertraut-freundschaftlichen Kontext. Jesus konstituiert damit eine Liebesgemeinschaft, die die Liebe des Vaters, des Sohnes und der Seinen real erfahrbar macht. Andererseits wird darin auch Gottes Liebe zur Welt real dargestellt und missionstheologisch entfaltet. „Denn indem Jesus die Jüngerinnen und Jünger an seiner Liebe sowie der Liebe Gottes teilhaben lässt, werden sie zugleich hineingenommen in die Sendung Jesu“ (376). Im Abschnitt Joh 13,6–11 wird primär die Teilhabe an Jesus (13,8) betont, nicht eine Reinigung im wörtlichen noch übertragenen Sinn (378f). Daher ist Joh 13,6–11 nicht mit dem Kreuzestod Jesu in Verbindung zu bringen, denn die Liebe Jesu drückt sich in seiner gesamten Sendung aus (378). Damit kann sich Joh 13,12–20 ohne Spannung dem Vorhergehenden anschließen: Jesus hat die Liebesgemeinschaft konstituiert.
Fazit: Die johanneische Fußwaschung Jesu hat eine christologische, soteriologische, ekklesiologische und ethische Dimension (385).
Die vorliegende Habilitationsschrift ist eine gründliche und fundierte Untersuchung der Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–20). Inhaltlich überzeugt sie, weil die Autorin umfassend den kulturellen Hintergrund analysiert und eine überzeugende Deutung vorschlägt. Und indem sie Joh 13,1–20 intratextuell (am vorliegenden Text des Evangeliums) interpretiert und hierbei vielfältige narratologische Bezüge untersucht (z. B. Joh 12,1–11; 15,1–17), kann sie eine überzeugende Deutung der gesamten Szene in die Forschungsdiskussion einbringen. Dabei löst sie sich von vergangenen Engführungen johanneischer Forschung (z. B. Konventikelethik).
Weil Hentschel in ihrer Arbeit gerade die ekklesiologische und ethische Dimension der Fußwaschung herausarbeitet und diese mit der christologischen und soteriologischen Dimension in eine kohärente Relation bringt, drängt sich die Frage auf: Wenn Jesus mit seiner Fußwaschung eine „zeichenhafte Handlung“ vollführt und seine Liebe erfahrbar werden lässt, inwiefern sollten auch die nachösterlich Glaubenden diese Handlung real aneinander praktizieren? Kurzum: Eine Aktualisierung für die kirchliche Praxis oder ggf. auch eine kurze Rezeptionsgeschichte dieses Rituals wäre wünschenswert, weil diese Monografie gerade das innige Verhältnis von Jesus und den Glaubenden und ihre Sendung in die Welt so überzeugend darstellt.
Dr. Alexander Drews, Dozent für Neues Testament und Praktische Theologie sowie Studienleiter, Biblisch-Theologische Akademie (BTA) Wiedenest