Neues Testament

Christopher B. Hays / Richard B. Hays: The Widening of God’s Mercy

Christopher B. Hays / Richard B. Hays: The Widening of God’s Mercy. Sexuality within the Biblical Story, New Haven: Yale University Press, 2024, geb., X+272 S., $ 28,–, ISBN 978-0-300-27342-7


Wie sind die biblischen Aussagen zur Homosexualität zu interpretieren und auf unsere heutigen Fragestellungen anzuwenden? Dazu hatte sich der amerikanische Neutestamentler Richard Hays (von der Duke Divinity School) bereits 1996 in einem viel beachteten Kapitel seiner einflussreichen Einführung in die neutestamentliche Ethik geäußert: „The Moral Vision of the New Testament“ (MVNT) 379–406 (für eine deutsche Übersetzung siehe hier). Diesem schwierigen sexualethischen Thema ist auch das gesamte, sehr persönliche Buch „The Widening of God’s Mercy“ (WGM) gewidmet, das Richard 2024 gemeinsam mit seinem Sohn Christopher Hays (vom Fuller Theological Seminary) veröffentlicht hat. Die beiden Autoren bedienen sich zwar durchgehend der Abkürzung LGBTQ, als würden sie über ein breites Spektrum von sexuellen Phänomenen schreiben, wollen aber ausdrücklich nicht die Themen Bisexualität und Transgender (17) und auch nicht das Thema Intersexualität behandeln, sondern beschränken sich ganz auf Menschen mit homosexueller Orientierung.

In seiner 1996 veröffentlichten Ethik hatte Richard Hays zwei Thesen vertreten: (1) Homosexuelle Handlungen werden in allen Bibeltexten zum Thema einhellig verurteilt: „Die Ehe zwischen Mann und Frau bildet den verbindlichen Rahmen für sexuelle Erfüllung und Homosexualität ist eine von vielen tragischen Zeichen dafür, dass wir gebrochene Menschen und der liebevollen Absicht Gottes entfremdet sind“ (MVNT 400). (2) Schwule und lesbische Christen sollten in der Kirche mit Liebe und Barmherzigkeit willkommen geheißen werden. Die Kirche sollte aber keine gleichgeschlechtlichen Trauungen durchführen und Christen mit einer homosexuellen Orientierung nur dann zum Pastorendienst ordinieren, wenn sie sexuell enthaltsam leben (MVNT 402–403).

Nachdem Richard Hays dieses Kapitel geschrieben hatte, machte er immer wieder die Erfahrung, dass seine exegetischen Ergebnisse ihn daran hinderten, auf „die schmerzvolle menschliche Not“ von Betroffenen „mit Gnade oder Großzügigkeit zu reagieren“ (WGM 126; vgl. 92, 221). Er empfand es als ungerecht, von Menschen mit einer unveränderbaren homosexuellen Orientierung lebenslange sexuelle Enthaltsamkeit zu fordern (213–214). Und er machte weiterhin viele positive Erfahrungen mit homosexuellen Christen, „die die Früchte des Geistes in Hülle und Fülle hervorbringen“ (12). Darüber hinaus musste er im Rückblick erkennen, dass seine 1996 veröffentlichten Ausführungen zur Homosexualität „im vergangenen Vierteljahrhundert vielen Menschen Schaden zugefügt haben“ (224). Aus diesen Erfahrungen ergab sich für ihn die drängende Frage, wie sich seine tief empfundene Spannung zwischen dem Leid homosexueller Christen und der biblischen Ethik auflösen lässt.

Die von Hays und Hays jetzt veröffentlichte Neupositionierung betrifft nur die zweite der beiden 1996 von Richard vertretenen Thesen: (1) Hays ist weiterhin der Meinung, dass homosexuelle Handlungen in allen Bibeltexten zum Thema einhellig verurteilt werden. (2) Im Unterschied zu früher hält er es aber jetzt für schriftgemäß, kirchliche Trauhandlungen und die kirchliche Ordination für homosexuell lebende Christen zu befürworten (216).

Zu dieser neuen Überzeugung sind Hays und Hays nicht dadurch gelangt, dass sie die Autorität der Bibel infrage stellten, sondern dass sie die biblischen Aussagen anders gewichteten (7, 12, 214). Über Christen, die sich – wie Richard 1996 (MVNT 381–389) – für ihre Ablehnung homosexueller Handlungen auf die wenigen biblischen Aussagen zur Homosexualität stützen (Gen 19,1–29; Lev 18,22; 20,13; Act 15,28–29; Röm 1,18–32; 1Kor 6,9–11; 1Tim 1,10), urteilen sie heute: Diese Bibelleser „sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht“ (WGM 2; vgl. 206–207). Denn die Hauptbotschaft der Bibel ist Gnade, und die Bibel muss als Buch über die sich ständig weiter ausdehnende Barmherzigkeit Gottes gelesen werden (134).

Viel Raum nimmt in der Argumentation die Überwindung des mosaischen Gesetzes durch die neutestamentliche Offenbarung ein, die Richard Hays 1996 wesentlich kürzer behandelt hatte (MVNT 381–382). Die Autoren zeigen ausführlich, dass beispielsweise die mosaischen Speisegesetze (WGM 169–171, 196–201) und die mosaischen Sabbatgesetze (122–130) aus neutestamentlicher Perspektive für Christen nicht mehr verbindlich sind. Christen sollten sich für ihre sexualethischen Urteile auch nicht auf Lev 18,22 und 20,13 (einschließlich der dort geforderten Todesstrafe) berufen, denn die Befreiung vom mosaischen Gesetz betrifft auch dessen Regelungen zum homosexuellen Geschlechtsverkehr (211).

In diesem Zusammenhang verweisen die Autoren auch auf die mosaischen Gebote über die Eunuchen. Ein Mann, „der zerquetschte Hoden hat oder dessen Glied abgeschnitten wurde“ (NGÜ), durfte laut Dtn 23,2 nicht zur Gemeinde des Herrn gehören und laut Lev 21,20 erst recht keine priesterlichen Funktionen ausüben. Über diese gesetzlichen Regelungen ist Philippus (laut Act 8,26–40) in Übereinstimmung mit einer Verheißung des Jesajabuchs (in Jes 56,3–5) hinausgegangen, indem er einen äthiopischen Eunuchen getauft hat (95–106, 157–161).

Dieser Argumentation werden sich viele Leser anschließen können, denn sie ist im Kern ganz johanneisch, paulinisch und reformatorisch. Im Johannesprolog heißt es über den Sohn Gottes: „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesetz ist durch Mose gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh 1,16–17). Paulus hat sich bei der Begründung seiner Ethik nicht auf mosaische Einzelbestimmungen gestützt, sondern sich ganz auf den Dekalog und das Liebesgebot konzentriert und sich auch in Röm 1,18–32 nicht auf die mosaischen Bestimmungen in Lev 18,22 und 20,13 berufen. Martin Luther hat diesen Sachverhalt in klassische Weise auf den Punkt gebracht: „Mose ist tot. Sein Regiment ist aus gewesen, da Christus kam. Er dienet nicht weiter (als bis) hierher.“ Daraus folge für Christen: „Mose wollen wir für einen Lehrer halten, aber für unseren Gesetzgeber wollen wir ihn nicht halten, es sei denn, dass er mit dem Neuen Testament und dem natürlichen Gesetz übereinstimme“ (Luther Deutsch, Hg. K. Aland, 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990, V, 98).

Überraschen wird dagegen viele Leser, dass die drei neutestamentlichen Aussagen zum Thema (Röm 1,24–27; 1Kor 6,9–11; 1Tim 1,10), die Richard Hays 1996 gründlich exegetisiert hatte (MVNT 381–389), in seiner neuen Argumentation fast vollständig außer Betracht bleiben. Zu 1Kor 6,9–11 und 1Tim 1,10 findet sich im ganzen Buch, soweit ich sehe, keine einzige exegetische Bemerkung. Und zu Röm 1,24–27 stellt Richard Hays lediglich in aller Kürze fest, dass der Text „gleichgeschlechtlichen Verkehr als eine tragische Verzerrung der geschaffenen Ordnung beschreibt“ (WGM 223) und er seine 1996 veröffentlichten exegetischen Ergebnisse nach wie vor für richtig hält (245–246 Anm. 2).

Wie aber fügen sich die expliziten neutestamentlichen Verurteilungen homosexuellen Geschlechtsverkehrs in die hermeneutische Gesamtargumentation des Buches ein? Das lässt sich aufgrund der sparsamen Andeutungen lediglich vermuten. Möglicherweise halten Hays und Hays das Urteil des Paulus in Röm 1,24–27 für nicht relevant, weil der Text ihres Erachtens nicht für Menschen mit homosexueller Orientierung gilt. Dafür könnte sprechen, dass sie ganz nebenbei andeuten, es sei anachronistisch, die biblischen Aussagen zur Homosexualität auf Menschen mit einer homosexuellen Orientierung zu beziehen (227 Anm. 5).

Dieses in der bibelwissenschaftlichen Diskussion verbreitete Argument habe ich kürzlich anhand des verfügbaren antiken Quellenmaterials überprüft. Anders als Hays und Hays anzunehmen scheinen, sind uns aus der philosophischen, der medizinischen, der astrologischen und der Unterhaltungsliteratur der griechisch–römischen Antike viele relevante Texte erhalten geblieben, in denen ausführlich von unterschiedlichen sexuellen Orientierungen die Rede ist. Mehrere antike Philosophen waren der Ansicht, manche Menschen seien „von Natur aus“ homosexuell. Einige antike Ärzte führten eine konstitutionelle Homosexualität auf Vererbung, auf eine Fehlentwicklung während des Zeugungsvorgangs oder auf eine angeborene Fehlbildung der Anatomie zurück. Etliche Astrologen nannten als Ursache für sexuelle Orientierungen bestimmte Konstellationen der Sterne bei der Geburt (siehe „Das Konzept der sexuellen Orientierung in der griechisch–römischen Umwelt des Neuen Testaments“, in: Ephemerides Theologicae Lovanienses 99 [2023], 609–637).

Davon abgesehen bin ich nicht der Meinung, dass die kurze Aussage des Paulus nur für Menschen mit heterosexueller Orientierung gilt. Denn in Röm 1,24 sagt der Apostel sehr grundsätzlich, dass Menschen durch homosexuellen Geschlechtsverkehr „ihre Leiber selbst entehren“ (LU17) bzw. „ihre eigenen Körper entwürdigen“ (NGÜ). Zu diesem Konflikt zwischen dem biologischen Geschlecht und einer gleichgeschlechtlichen Handlung kommt es offensichtlich auch bei Menschen mit einer homosexuellen Orientierung, die in einer treuen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben.

Die Grenze der Aussage von Röm 1,24–27 liegt meines Erachtens vielmehr darin, dass es Paulus in diesem Zusammenhang nicht darum ging, zwischen unterschiedlich schweren Übertretungen zu unterscheiden. Der Gesamtkontext seiner Theologie legt aber nah, dass Paulus treue gleichgeschlechtliche Partnerschaften als weniger schwerwiegende Verstöße bezeichnet hätte als homosexuelle Promiskuität oder gar homosexuelle Prostitution. Für unsere heutigen kirchlichen Diskussionen sind solche Differenzierungen sicher außerordentlich relevant.

Möglicherweise haben Hays und Hays Röm 1,24–27 auch deswegen kein Gewicht zugemessen, weil sie diese sexualethische Aussage des Apostels für ähnlich überholt halten wie das mosaische Gesetz. In diese Richtung deutet jedenfalls ihre Aussage, dass die Ausdehnung der Barmherzigkeit Gottes mit seiner Offenbarung in der Verkündigung Jesu und der Apostel ihr Ziel noch nicht erreicht hat. Vielmehr verheiße das Neue Testament, „dass der Heilige Geist die Gemeinschaft der Nachfolger Jesu weiterhin zu neuen und überraschenden Wahrheiten führen wird“ (WGM 3).

Als Beispiel für einen solchen die neutestamentliche Ethik überschreitenden Fortschritt nennt Richard Hays das biblische Wort „Porneia“ (πορνεία), einen Oberbegriff für unerlaubte sexuelle Aktivitäten. Während die ersten Christen (laut Act 15,28–29) auch homosexuellen Geschlechtsverkehr als „Porneia“ bezeichnet hätten, könne die Kirche heute zu der geistgeleiteten Erkenntnis kommen, „dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften nicht länger automatisch als Porneia zu klassifizieren sind“ (187).

Wie immer Hays und Hays die direkten neutestamentlichen Aussagen zum Thema in ihre Gesamtargumentation einordnen würden: Mir scheint es auch nach der Lektüre ihres Buches nicht möglich zu sein, den ethischen Konflikt, der mit diesem sexualethischen Thema verbunden ist, aus der Welt zu schaffen. Ich fürchte, dass die Frage, wie wir Mitchristen mit homosexueller Orientierung gerecht werden, zu den schwierigen ethischen Grenzfragen gehört, für die es keine glatten Lösungen gibt. Es droht ständig die Gefahr, entweder den betroffenen Personen Unrecht zu tun oder die biblische Ethik umzuinterpretieren. Im Rückblick scheint mir, dass Richard Hays die verschiedenen exegetischen, hermeneutischen, theologischen und seelsorgerlichen Aspekte 1996 besser im Gleichgewicht gehalten hat als in seiner neuen Publikation.


Dr. Armin D. Baum, Professor für Neues Testament an der FTH Gießen und der ETF Leuven