Neues Testament

Heinz-Werner Neudorfer: Der Brief des Judas

Heinz-Werner Neudorfer: Der Brief des Judas, Historisch-Theologische Auslegung, Holzgerlingen: SCM Brockhaus / Brunnen, 2024, geb., 295 S., € 43,−, ISBN 978-3-417-29741-6


Mit dem von Pfr. Dr. Heinz-Werner Neudorfer (seit 2018 im Ruhestand) kommentierten Judasbrief erscheint bereits die 16. Auslegung eines ntl. Buches in der Reihe HTA. Neudorfer hatte bereits die drei sogenannten Pastoralbriefe in der Reihe kommentiert und legt auch mit diesem Band eine gut lesbare und dem Anliegen der Reihe kompetent entsprechende Auslegung des lediglich 25 Verse umfassenden Briefes vor.

Der einleitende Teil (15–88) behandelt die Textüberlieferung und Stellung des Judasbriefs im Kanon, gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte der Auslegung, analysiert Form und Sprache des Schreibens und beleuchtet die Intention und geschichtliche Situation. N. fasst das Profil des Jud so zusammen „Die Sprache: sehr gutes Griechisch. Die Briefform: orientalisch. Die Quellen: jüdisch – kanonisch und apokryph. Die Situation: dramatisch.“ (50). Für die Frage nach Autor, Adressaten, Zeit und Ort der Abfassung kommt er zum Schluss, dass „sehr viel dafür spricht, in dem Herren-Halbbruder Judas die Person zu sehen, die hinter dem Judasbrief steht“ (64; mit möglicher Mitwirkung eines Sekretärs). Für eine Identifizierung der Empfänger fehlen konkretere Aussagen, allerdings scheinen sie in einer Beziehung zum Autor zu stehen und wegen ihrer selbstverständlichen Kenntnisse atl.-jüd. Traditionen aus dem judenchristlichen Bereich zu stammen. Diese könnten geografisch in Syrien-Palästina, Kleinasien oder Ägypten beheimatet sein, wobei am meisten für ersteres spreche, „ohne dass wir hier Sicherheit erlangen können“ (68). Nimmt man den Herrenbruder als Autor an, ergibt sich für die Abfassungszeit eine Spanne von den frühen 50er-Jahren bis um 60 n. Chr. (beachte, dass auch Heckel in seinem 2019 erschienenen NTD-Kommentar um kurz vor 67 n. Chr. (mit Autor Herrenbruder) datiert) und als Ort wohl Jerusalem. Kap. 6 untersucht „Hintergründe, Traditionen, Quellen und literarische Beziehungen“, insbesondere zu den Qumranschriften, der jüdisch-prophetischen Tradition, der Henochliteratur und zum 2Petr. Im Abschnitt zur Henoch-Literatur wird vorerst eine Auslegeordnung der Bezüge von Jud 14–15 zu äthHen 1,9 und AssMos (s. Jud 9) gemacht, die damit zusammenhängenden Fragen werden erst bei der Auslegung beantwortet (der Verweis in Anm. 191 (74) sollte lauten „s. unten 156–157“ und S. 75 wird im Text ein engl. Zitat wiedergegeben, das auf derselben Seite in Anm. 194 nochmals steht). Was die Parallelen zum 2Petr betrifft, so gibt der Abschnitt einen ersten kurzen Überblick und N. merkt in Anm. 198 an, dass nach seiner Überzeugung Jud die Vorlage für 2Petr war und er die Beziehung beider Briefe daher „erst in der Auslegung des 2Petr ausführlich berücksichtigen“ werde (also wohl im entsprechenden HTA-Band; ein Hinweis auf diese Anm. wäre auf S. 120 hilfreich). Ein informatives Kap. zu „Botschaft und theologische Aussagen“ schließt den Teil ab, bevor im zweiten Hauptteil (89–278) die Auslegung folgt.

Einige Punkte zum ersten Teil des Kommentars sind dem Rezensenten aufgefallen: Die Überschrift „Frühe Auslegungen“ für Kap. 2.1 sollte erweitert werden, da in dem Abschnitt mit dem Canon Muratori oder Origenes nicht Auslegungen, sondern auch Erwähnungen oder Zitationen des Briefes genannt werden. Das Kap. 2.8 „Aktueller Stand der Forschung“ führt die 20 wichtigsten Veröffentlichungen seit 1990 an, von denen alle außer einer (R. Heiligenthal) in englischer Sprache verfasst sind. Daher hätte dieser Abschnitt ohne weiteres gleich mit dem folgenden (2.9), mit dem Titel „Die englischsprachige Forschung“ zusammengenommen werden können (wobei dieser etwas inkonsequent mit Verweis auf die zwei neusten deutschen Kommentare endet). Im Abschnitt 3.4 zu Jüdischen Bestandteilen der Argumentation im Judasbrief ist nicht ohne weiteres nachvollziehbar, warum ausführlich (42) die hebr. Worte drsch und ptr besprochen werden. Zur Frage der „Gegner“ im Judasbrief wird vermerkt, man könne hier nicht weiter auf die Forschungsgeschichte eingehen (47), um dann doch Meinungen seit Clemens von Alexandrien bis zu Vertretern der Neuzeit zu referieren (47–50). Die Anm. 122 (53) entspricht wörtlich der Anm. 135 (56) und S.79 fehlen bei den vier Beispielen die Angaben der Stelle in Jud bzw. 2Petr.

Die Auslegung des Briefes entlang der sieben strukturellen Abschnitte (1–2 Präskript; 3–4 Anlass/Absicht; 5–7 drei bibl. Beispiele; 8–13 Bedeutung im Blick auf Irrlehrer; 14–16 Irrlehre und Henochtradition; 17–23 Aufgabe der Gemeinde angesichts der Bedrohung; 24–25 Schluss-Doxologie) erfolgt solide und bedacht. Angesichts der spärlichen Informationen im und außerhalb des Textes zum Kontext des Schreibens werden fair und überzeugend die textlichen Grundlagen ohne Spekulationen erläutert, unterschiedliche Argumente und Optionen abgewogen und nüchterne exegetische Entscheide gefällt. Die Aussage in V.3 zu einem möglichen früheren Brief versteht N. so, dass der Entschluss für einen solchen, grundsätzlichen Brief gefasst worden und zumindest gedanklich schon begonnen war, als neue Nachrichten zu einer Änderung führten. Die die Christologie/Trinität betreffenden Textvarianten in V.5 werden ausführlich (145–150) besprochen und N. bevorzugt eine Lesart, die sich auf keine Handschrift stützen kann: „…obwohl ihr (es) alles wisst, […], dass der Herr (JHWH) das Volk…“ Zu der indirekten Anspielung in V.6 auf die AssMos (158 und ausführlicher 167–169, 186–188) und das Zitat aus äthHen in V.14–15 (213–226) versucht N. zu klären, wie man solche Einbindung nichtkanonischer Texte aus offenbarungstheologischer Sicht der Bibel verstehen soll. Er sieht die Hauptproblematik offenbar in der Kennzeichnung eines Zitats aus einem apokryphen Text als historisch tatsächlich von Henoch stammend und mit kanonischer Autorität sprechend („hat … Henoch … vorhergesagt“). Sein Vorschlag, der Autor verwende das apokryphe Zitat „einfach als eine Art „Predigtbeispiel““ (226; auch 161, 169, 187, 217) so wie wir Zitate von Luther, Schiller usw. zur Veranschaulichung und Verstärkung einsetzen würden, beantwortet m. E. die aufgeworfenen Fragen nicht wirklich. Der apokryphe Text in äthHen besaß keine Offenbarungsqualität (keine Inspiration) und wird hier in einer Form in den inspirierten Bibeltext aufgenommen, die bedeutet: Das Zitat stammt tatsächlich von Henoch („der Siebte von Adam an“). Es besass und besitzt prophetische Qualität und nun im Text des Jud als inspirierter Text auch Autorität wie der Rest des Briefes. – Das Verb „träumen“ in V.8 versteht N. mit negativer Konnotation, das Wort spilades (V.12) wird hier eher „Schandfleck“ als „Klippe“ meinen. Bei den komplexen Textvarianten der V.22–23 geht N. von drei Personengruppen aus und liest beim Verb diakrinomai die Akkusativ-Variante.

Formal gibt es in diesem Hauptteil des Kommentars nur wenige, kleine Mängel neben einem großen ärgerlichen. Auf S. 33 sind zwei Seitenhinweise in Klammern im Text stehen geblieben, die in eine Anm. gehören (s. auch 123, 129, 219, 222). In Anm. 63 (108) sind drei griech. Worte ohne Grund fett gedruckt (auch 172). Anm. 65 (109) weist darauf hin, dass ein nicht vorhandenes Zitat im Haupttext auf S. 601 der Literaturangabe stehe. S. 117–119 arbeitet plötzlich mit Bullet-points und S. 118 ist eine unnötige Leerzeile entstanden (auch 171). Das „A.a.O.“ in Anm. 50 (131) bezieht sich nicht auf die letzte, sondern auf die vorletzte Anm. Die Überschriften S. 138–144 2. bis 5. sollten linksbündig sein. In Anm. 63 (188) steht eine Information, die bereits im Haupttext S. 186 steht. – Irritierend ist die undurchsichtig inkonsequente Handhabung der Umschrift griechischer Worte. Sollen sie immer im Haupttext (z. B. 36–37), oder doch nicht (z. B. 114, 141) oder nur ausnahmsweise (102) erfolgen; auch in den Fußnoten (z. B. S. 43 Anm. 94; S. 134 Anm. 61), oder doch nicht (z. B. S. 52 Anm. 118 und meist; gemischt S. 121 Anm. 18); nur bei hebr. Wörtern (51–52) oder doch nicht immer (141, 179)? Eigentlich stehen griech. Worte ohne, und die Umschrift in eckigen Klammern, aber auch schon mal griech. Worte in eckigen (96) und Umschrift in runden (93, 97). Man vermutet, dass die Umschrift bei mehrfachem Vorkommen im fortlaufenden Text nur das erste Mal gesetzt werden wollte, aber auch das wird nicht konsequent gemacht (z. B. doulos 97; adelphos 98, 123). Bei einer eventuellen Neuauflage sollte das unbedingt vereinheitlicht werden.

Wer sich mit dem unscheinbaren Judasbrief beschäftigt, findet in diesem Kommentar sowohl als Akademiker als auch als pastoraler kirchlicher Mitarbeiter vorbildliche Hilfe. Die aktuelle Forschungslage wird rezipiert, textlich-sprachliche Optionen sind kompetent besprochen, inhaltliche Fragen werden fair und ausgewogen diskutiert und die eigene Meinung wo nötig zurückhaltend profiliert. Der Autor scheut keine „exegetisch, mehr noch hermeneutisch wohl schwierigste ,Nuss‘“ (213) zu besprechen, etwas, das man von einem Kommentar gerade besonders erwarten darf.


Dr. Jürg Buchegger-Müller, Pfarrer der Freien Evangelischen Gemeinde Wetzikon (Schweiz)