Historische Theologie

Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus

Peter Schäfer: Kurze Geschichte des Antisemitismus, München: Piper Verlag, 2022 (Nachdruck; Original bei C.H. Beck, 2020), Pb., 335 S., € 14,–, ISBN 978-3-492-31143-4


Peter Schäfer war Professor an mehreren Universitäten sowie Direktor des Jüdischen Museums Berlin. Sein Forschungsschwerpunkt ist das antike Judentum. Den Begriff „Antisemitismus“ verwendet Schäfer „für alle ausgeprägten Formen von Judenhass und Judenfeindschaft“ (9). Auf eine konsequente Unterscheidung zwischen „antijudaistisch“ und „antisemitisch“ verzichtet Schäfer ausdrücklich, er spricht also auch beim Christentum meistens von „Antisemitismus“. Schäfer wirft folgende zentrale Frage auf: „Wann wird innerjüdische Polemik antijüdisch und schlägt in Antijudaismus um …?“ (45). Eine grundsätzliche Klärung dieser Frage versucht er jedoch nicht, er urteilt dann also spontan im Einzelfall.

Laut Schäfer ist der Antisemitismus „so alt wie die jüdische Diaspora selbst“ (9), ist also nichts spezifisch Christliches. Dass viele Juden in der Diaspora leben mussten, sei vor allem eine Folge jüdischer Aufstände. 

Im Hinblick auf die Geschichte des Antisemitismus wird von Schäfer „der Religion bzw. christlichen Theologie insgesamt ein viel größeres Gewicht eingeräumt“, als „christliche  Theologen … ihr zugestehen wollen“ (13f). Man beachte das Wort „wollen“ – eine von seiner eigenen abweichende Sichtweise kann sich Schäfer also nur erklären, indem er Andersdenkenden unsachliche Motive unterstellt. Er behauptet, dass „Theologen immer noch und allzu oft daran gelegen ist, die Bedeutung der christlichen Manifestationen des Antisemitismus herunterzuspielen und die Kirchen damit zu exkulpieren“ (14). Was die Kirchen im deutschen Sprachraum betrifft, habe ich den gegenteiligen Eindruck, dass sie nämlich häufig und pauschal Selbstkritik am Verhalten der gesamten Christenheit gegenüber „den Juden“ üben – siehe z. B. eine Stellungnahme aus der EKD (266f). Demgegenüber plädiere ich für eine differenzierte Betrachtung geschichtlicher Vorgänge, denn diese sind oft komplex.

Das Christentum vor Augen meint Schäfer, dass „die religiöse Wurzel des Antisemitismus“, die „Verankerung in der Religion“, „von der modernen Antisemitismusforschung lange vernachlässigt wurde“ (295). Das mag ein Indiz dafür sein, dass Schäfers starke Fixierung auf eine christliche Judenfeindschaft von seinen Kollegen nicht geteilt wurde (und wird?).

Sein Kapitel über das Neue Testament (43–66) beginnt mit folgendem Satz: „Die Geschichte des Christentums und damit auch der christlichen Judenfeindschaft beginnt mit dem Neuen Testament.“ Das klingt so, als wäre Judenfeindschaft ein wesentlicher Teil des Christentums. Hier ist zu bedenken, dass am von Schäfer hier angesprochenen Beginn des Christentums die Judenchristen stehen, was sich auch darin zeigt, dass die Autoren der neutestamentlichen Schriften „in der Mehrzahl gebürtige Juden“ waren (44). Dass diese gebürtigen Juden einen grundsätzlichen Judenhass gehabt hätten, ist von vornherein unwahrscheinlich. Eine unparteiische Geschichtsbetrachtung sollte auch erwähnen, dass die Bewegung der Jesusanhänger anfangs durch Juden bekämpft wurde. Dass Paulus die junge Bewegung bekämpfte, erwähnt Schäfer (44). Aber das konnte Paulus nicht als Einzelkämpfer tun, sondern mit Unterstützung durch führende Juden. Ein weiteres Indiz für die gewaltsame Bekämpfung der Jesusbewegung liegt in der Steinigung des Jakobus, des Bruders Jesu, nach einem Beschluss des Hohen Rats, wie Flavius Josephus berichtet (in Jüdische Altertümer, Buch XX). Das erwähnt Schäfer nicht. Die anfängliche Christenfeindschaft von Juden ist ein wesentlicher Faktor für die tragische Entfremdung zwischen Juden und (Juden-)Christen. Wer die Schuld für diese Entfremdung einseitig nur bei Christen sucht, blendet einen Teil der historischen Realität aus.

Schäfer meint, die Paulusbriefe „sind alle keine theologischen Abhandlungen, sondern Gelegenheitsschriften“ (45). Das ist ein unrealistischer Gegensatz: Zwar werden Briefe natürlich aus konkreten Anlässen („Gelegenheiten“) geschrieben, aber sie können dennoch in großen Teilen theologische Abhandlungen enthalten (das gilt vor allem für den Römerbrief).

Das Matthäus-Evangelium berichtet eine Reihe von Aussprüchen Jesu mit scharfer Kritik an Pharisäern („Heuchler“). Diese Aussprüche ordnet Schäfer aber nicht als „antijüdisch“ ein, sondern er differenziert: „Bei aller bisher ungehörten Schärfe bleiben sie im Rahmen einer innerjüdischen Polemik.“ (54) Diese Worte kann man „leicht als die ureigene und authentische Stimme Jesu verstehen“ (55). Aber im weiteren Verlauf der Geschichte werden „sie ihre verhängnisvolle Wirkung entfalten“ (55). Besonders problematisch findet Schäfer den Passionsbericht, dessen Gesamtaussage er folgendermaßen deutet: Es war „das Volk der Juden in seiner Gesamtheit“, das den Tod Jesu verlangte, und: „Die Juden sind dem Matthäusevangelium zufolge schuld am Kreuzestod Jesu“ (57). Schäfer sieht Bilder „vom kollektiven Hass des ganzen jüdischen Volkes auf Jesus im Matthäusevangelium“ (65). Aber auch wenn Schäfer die Wirkungsgeschichte des Matthäusevangeliums betont, führt er bei der Darstellung der weiteren Jahrhunderte nie eine konkrete Mt-Stelle an – Gleiches gilt für das JohEv. Waren also doch keine konkreten Aussagen der Evangelien an bestimmten Judenverfolgungen so stark beteiligt, dass sie bei der Darstellung dieser Verfolgung erwähnenswert wären?

Am Ende des Buches stehen Endnoten; es gibt also keine Fußnoten, daher ist das Nachschlagen mühsam. Danach kommen ein Literaturverzeichnis sowie ein sehr wertvolles Personen- und Ortsregister. Darin kann man auch nach Matthäus (Evangelist) suchen, und findet alle im Buch erwähnten Matthäus-Stellen.

Im JohEv meint Schäfer die stärkste Judenfeindschaft innerhalb des NT zu erkennen. Er überschreibt das betreffende Kapitel mit „Das Johannesevangelium: Die Juden als Söhne der Finsternis“ (58-66). Diese Überschrift ist verfehlt. Das lässt sich bereits an Jesu Aussage: „Das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22) erkennen. Denn gemäß Schäfers Gleichsetzung würde sich hier ergeben, dass das Heil von den „Söhnen der Finsternis“ kommt – was bestimmt nicht die Aussage des JohEv ist. Schäfer zitiert viele Abschnitte aus dem JohEv, u. a. aus Kap. 3 und 5 – aber aus Kap. 4 führt er nichts an. Ist ihm der von mir genannte Vers nicht aufgefallen?

Die von Schäfer konstruierte Verknüpfung von „Finsternis“ und „Juden“ gibt es im JohEv nicht. Der Prolog bezieht sich auf die Menschheit insgesamt: Das „Licht der Menschen“ (Joh 1,4) kam in den Kosmos (Joh 1,10). Diese Linie wird beibehalten, z.B. in Joh 3,19: „Die Menschen [also nicht speziell die Juden!] liebten die Finsternis mehr als das Licht“. Aber Schäfer deutet den Prolog so, als wären mit der Finsternis speziell die Juden gemeint.

Wir wünschen uns heute eine stärker differenzierende Ausdrucksweise, als wir sie in Texten der Antike – und so auch in der Bibel – finden. Schäfer verweist darauf, dass im JohEv die Gegner Jesu „oft und generalisierend schlicht ‚die Juden‘ genannt“ werden. Damit könnte bei oberflächlicher Betrachtung der Eindruck entstehen, dass hier die Gesamtheit der Juden als Gegner Jesu hingestellt wird. Bei genauerem Hinsehen klärt sich ein solches Missverständnis auf, denn auch Johannes der Täufer, Jesus selbst sowie seine ersten Anhänger waren Juden, so dass klar ist, dass das JohEv nicht pauschal alle Juden als Gegner Jesu hinstellen will. Und bei einer Aussage wie „Die Juden hoben Steine auf, um Jesus zu steinigen“ (Joh 8,31) ist von vornherein klar, dass es nicht das gesamte Volk war, das Steine aufhob; das taten wohl bloß einige jener Juden, die mit Jesus stritten.

Übrigens finden wir pauschale Beschuldigungen auch oft bei den Propheten des AT, z. B. in Jes 1,3f: „Israel hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht. Wehe der sündigen Nation, dem schuldbeladenen Volk, der Brut von Übeltätern, den Söhnen, die Verderben bringen! Sie haben den HERRN verlassen, den Heiligen Israels verschmäht und ihm den Rücken zugekehrt.“ Wenn solche generalisierenden Sätze im NT stehen würden, stünden sie wohl auch unter Antisemitismus-Verdacht. Aber da sie im AT stehen, bezeichnet sie niemand als „antisemitisch“. Das zeigt, dass manche Antisemitismus-Historiker gegenüber dem NT besonders argwöhnisch sind – und dann rasch Sätze zu finden meinen, die ihre Vorurteile bestätigen.

Unter der von vorgeblichen Juden gebildeten „Synagoge des Satans“ in Apk 2,9 und 3,9 versteht Schäfer jüdische Synagogen: „Die Juden haben demnach Satan zum Vater, …, und ihre angeblich jüdische Synagoge ist keine Synagoge, sondern die Versammlungsstätte der Abkömmlinge Satans.“ (65). Aber das griechische Wort „Synagoge“ bedeutet einfach „Versammlung“. Wenn im NT außerhalb von Galiläa eine „Synagoge der Juden“ gemeint ist, wird das mitunter entsprechend präzisiert (so in Thessalonich, Apg 17,1). Und dass den Juden pauschal ihr Jude-Sein abgesprochen wird, wäre im ganzen NT einzigartig. Schäfers Deutung ist also von vornherein unwahrscheinlich.

Schäfer klammert „die jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum im Mittelalter“ aus (14). Das betrachte ich als Mangel, denn wenn zwei Seiten gegenseitig polemisieren, und bloß die Polemik der einen Seite dargestellt wird, entsteht ein einseitiges, schiefes Bild von der Vergangenheit. Schäfer kündigt an, ausnahmsweise „die jüdische polemische Streitschrift Toledot Jeschu (‚Lebensgeschichte Jesu‘)“ irgendwo im Buch darzustellen (14); diese bespricht er dann knapp (134–137), versteckt im mit „Angst vor selbstbewussten Juden“ überschriebenen Kapitel (132f). „Diese Schrift … entstand im spätantiken Judentum“ (134f). Ähnliche Inhalte finden sich auch in einem Werk des heidnischen Philosophen Celsus, der sich auf den Bericht eines Juden stützte, der angeblich mit Jesus selbst Kontakt hatte. Viele Zitate daraus bringt Origenes in seiner Schrift „Contra Celsum“. Zu den Behauptungen dieses Juden gehörte, dass Jesus in Ägypten Zauberei gelernt hatte und deshalb Wunder tun konnte, und dass der Verlobte seiner Mutter die Verlobung auflöste, weil sie angeblich eine intime Beziehung mit einem Soldaten namens Panthera hatte, woraus der uneheliche Sohn Jesus hervorging. Das bezeichnet Schäfer, im Kap. „Jüdische Polemik gegen das Christentum“ (81–83), als die „boshafteste Zuspitzung dieser jüdischen Umkehrung der Geburtsgeschichte“. Aber Schäfer hat Verständnis dafür; nach ihm sei diese „polemische Umdeutung …. ein Indiz dafür, dass die Juden [!] den virulenten christlichen Antijudaismus nicht kampflos hinnahmen“. Allerdings richtete sich diese Polemik gegen keinen Antijudaismus; die Behauptung etwa, dass Jesus von einer Jungfrau geboren wurde, ist nicht antijudaistisch, und auch nicht die Behauptung, dass Jesus Wunder tat.

Hier schreibt Schäfer pauschal „die Juden“, obwohl vermutlich nur ein Teil der Juden auf diese Art polemisierte. Beim JohEv kritisiert Schäfer eine ähnliche pauschale Ausdrucksweise … Wegen solcher mangelnden Differenzierung sollten wir Modernen also weniger streng sein gegenüber Texten der Antike!

Bei Augustinus differenziert Schäfer: Neben scharfen Aussagen über Juden sieht er bei ihm eine in der Kirche einflussreiche Bibelauslegung, welche „vielen Juden das Leben retten“ sollte (92–95).

Einflussreich war auch Papst Gregor der Große, welcher Juden schützen wollte und sich 598 in einem Brief „gegen die Zwangstaufe von Juden“ aussprach (122). Auf seiner Linie lagen spätere Päpste, ebenso die wichtige, Decretales genannte Sammlung kirchenrechtlicher Texte von 1234 (123).

Schäfer beschreibt Gewaltexzesse im Hochmittelalter, „wie sie bis dahin unbekannt und undenkbar waren“ (137), und beginnt mit dem Ersten Kreuzzug ab 1096. Daraus ergibt sich indirekt auch, dass es etwa ein Jahrtausend (!) lang derartige Gewaltexzesse gegen Juden nicht gab. Diese positive Einsicht wird von Antisemitismus-Historikern kaum beachtet, so dass sie oft fälschlich das Bild einer ständigen Bekämpfung der Juden durch die Kirche vermitteln. Auch Schäfer meint eine kontinuierliche Entwicklung „zunehmend und unaufhaltsam in Richtung auf die rigorose Vertreibung“ zu sehen (121).

Dieses Jahrtausend relativer Ruhe legt eine weitere Einsicht nahe: Die im NT enthaltene Kritik an Juden führte bei Christen nicht dazu, Juden zu bekämpfen. Wäre eine solche Tendenz im NT angelegt, hätte sie sich schon früher ausgewirkt. Und umgekehrt ist nicht plausibel, dass es ausgerechnet um 1100 in der Bevölkerung Mitteleuropas eine so intensive Beschäftigung mit dem (lateinischen!) NT gegeben hätte, so dass darin die Ursache für Gewaltexzesse zu sehen wäre. Schäfer versucht allerdings spekulativ, eine Verbindung vom JohEv zu Judenverfolgungen im Hochmittelalter herzustellen, gibt dafür aber keine Belege an. Und er behauptet sogar, dass die Bevölkerung den päpstlichen Aufruf zum Kreuzzug gegen Muslime im Heiligen Land von „von Anfang an auch als einen Aufruf gegen die Juden im eigenen Land“ verstanden hätte (138). Auch diese Behauptung belegt er nicht weiter. Die Bischöfe verstanden den Aufruf des Papstes anscheinend nicht so, denn sie versuchten die Juden zu schützen.

Fazit: Peter Schäfer behandelt in seiner mehr als 300-seitigen Kurzen Geschichte des Antisemitismus das Schicksal von außerhalb Israels lebenden Juden vom Altertum bis zur Gegenwart. Als Gemeinschaft mit eigenen Regeln inmitten einer andersgläubigen Bevölkerung zu leben, war stets mit einer Gefährdung verbunden. Umso bemerkenswerter ist es, dass Juden im christianisierten Europa bis etwa 1100 n.Chr. zwar oft eingeschränkt wurden, aber relativ friedlich leben konnten. Das spricht dafür, dass sich aus der Lektüre der neutestamentlichen Schriften keine Gefahr für Juden ergab. Dennoch meint Schäfer in diesen Schriften, insbesondere im Johannes-Evangelium, einen starken Antisemitismus zu finden, und er behauptet eine negative Nachwirkung dieser Schriften, ohne diese Behauptung zu begründen. Der Wert von Schäfers Buch wird durch solche spekulativen Behauptungen getrübt, außerdem durch seine Übertreibungen und Einseitigkeiten, insbesondere bei der Auslegung des Neuen Testaments. In meinem Bekanntenkreis kenne ich niemanden, der durch intensives Bibellesen zu einer negativen Haltung gegenüber Juden gekommen wäre; aber ich kenne viele, die dadurch eine grundsätzlich (teilweise sogar überschwänglich) positive Haltung zu Juden entwickelten. Darin sehe ich ein starkes Indiz dafür, dass das NT bei sorgfältiger Lektüre keinen Antisemitismus zeigt.


Dr. Franz Graf-Stuhlhofer, BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik