Historische Theologie

Irene Dingel (Hg.): Der Osiandrische Streit (1550–1570)

Irene Dingel (Hg.): Der Osiandrische Streit (1550–1570), bearb. von Jan Martin Lies, Hans-Otto Schneider, Controversia et Confessio 7, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023, Ln., 1023 S., € 150,–, ISBN 978-3-525-50014-9


Als letzter Textband der Reihe Controversia et Confessio (C&C) erschien mit Band 7 im April 2023 die Auseinandersetzung über Andreas Osianders Lehre. Der in der Zählung folgende achte Band Die Debatte um die Wittenberger Abendmahlslehre und Christologie (1570–1574) ist schon 2008 als erster Band** schienen. An vierter Stelle wurde 2013 die Sammlung Antitrinitarische Streitigkeiten: Die tritheistische Phase (1560–1568) veröffentlicht; sie nimmt in der Reihenfolge der Textbände den neunten und damit den letzten Platz ein.

Der zum Priester geweihte Andreas Osiander (1498–1552) aus Gunzenhausen wirkte ab 1520 als evangelischer Theologe in Nürnberg und Königsberg. Der nach ihm benannte „Osiandrische“ Streit könnte auch Streit über die Rechtfertigungslehre heißen, denn seine zweite Königsberger Disputation De iustificatione (24. Oktober 1550) war Ausgangspunkt der oft hitzig geführten Lehrdiskussionen über dieses Thema. Sie dauerten über Osianders Tod am 17. Oktober 1552 hinaus an und wurden auch Gegenstand von Lehrentscheidungen des 3. Artikels der 1577 veröffentlichten Konkordienformel (BSELK FC, Ep III, S. 1234–1241, vgl. ebd. Anm. 69; SD III, S. 1388–1415). Allerdings fand Osianders Verständnis des Rechtfertigungsgeschehens nur sehr begrenzt Zustimmung; die in anderen Fragen durchaus verschieden urteilenden Gnesiolutheraner, Philippisten und eher calvinistisch orientierten Theologen waren einhellig der Meinung, dass die Auffassung des Königsberger Theologen abzulehnen sei (vgl. 10f). So kann mit Recht von einem „Osiandrischen“ Streit gesprochen werden.

Mit der Rechtfertigungslehre wird das zentrale Thema des Reformators Martin Luther aufgenommen, das auch mit dem Majoristischen, dem Synergistischen und dem Antinomistischen Streit (C&C Bände 3, 4 und 5) berührt worden war. Osiander gibt dem Fachgespräch aber eine neue Wendung, weil er seine Christologie von der Trinitätslehre her begründet: „Gott ist ein einziges, vollkommenes, unzertrennliches Wesen“ (7). Die einhellig im evangelischen Lager vertretene Imputationslehre ist ihm zu wenig. Für Osiander muss die göttliche Natur Christi im Menschen wohnen. Damit ist die ganze Gottheit im Menschen gegenwärtig (8). – Seine theologischen Gegner bleiben dagegen Luthers Erbe treu; sie bemängeln mit Recht: Die durch Leiden und Sterben Christi erworbene Sündenvergebung wird der Einwohnungslehre untergeordnet (9).

Osianders Disputation in lateinischer (1550) und deutscher (1551) Sprache eröffnet als erstes und wichtigstes Dokument der Auseinandersetzung den vorliegenden Band (18–51). Ebenfalls aus seiner Feder stammt die Rechte, wahre und christliche Auslegung über die Worte des Herrn Johannis 16,10 (130–145). Weitere von ihm noch vor seinem Tod im Oktober 1552 herausgegebene Schriften wurden nicht in C&C 7 aufgenommen, weil sie schon in der Osiander-Gesamtausgabe ediert sind. Irene Dingel nennt in der Historischen Einleitung zu C&C 7 An filius Dei fuerit incarnandus, si peccatum non introivisset in mundum. Item de imagine Dei, quid sit (1550), des weiteren Von dem einigen Mitler Jhesu Christo und Rechtfertigung des Glaubens. Bekantnus (1551) sowie die Schrift mit dem heute kurios anmutenden Titel Schmeckbier (1552). Auf den 62 Seiten dieser Broschüre zitiert Osiander wesentliche Argumente der Veröffentlichungen seiner Gegner Joachim Mörlin, Michael Roting, den „Nürnbergischen Uhu“ (Autor: M. Roting), Justus Menius, Matthias Flacius und Nikolaus Gallus, Johannes Pollicarius, Alexander (H)Alesius, Nikolaus Amsdorff und Johannes Knipstro. Schmeckbier, also „Bierprobe“ (vgl. Art. „Schmeckebier“ in: Grimm Bd. 15, Sp. 961, Z. 36ff), lautet die Schrift, weil der Leser aus den Originalzitaten „leichtlich Iren Gaist, Glauben vnd Kunst kan pruefen, Gleich wie man aus einem Trunck, was im Faß fur Bier ist, kan schmecken“ (Schmeckbier Titelblatt S. 1, unpag., vgl. ebd. 3–6).

Herzog Albrecht von Brandenburg-Preußen versucht, den theologischen Streit zwischen Osiander und seinen Kollege zu schlichten. Er bekundet seine Absicht in einem „Ausschreiben“, das den Streit um Osianders Lehre und Albrechts Ausgleichsbemühungen dokumentiert und zu synodalen Pastoralkonventen über die Lehre auffordert (1551, Dok. 4, bes. 127f.). Mit dem „Abschied“ von 1554, „darnach sich alle vnnd jedere jhrer D. G. Fürstenthumbs Pfarherrn vnwegerlich halten sollen“ (821, Titelbl.), will der Herzog den lutherischen Lehrkonsens und den parochialen Frieden auf den Kanzeln und in den Gemeinden wieder herstellen (Dok. 15). – Außer Herzog Albrecht stellte sich auch der Königsberger Pfarrer und Berater des Herzogs Johannes Funck auf die Seite Osianders (Dok. 2, 1551 und 13, 1553) sowie der spätere Königsberger Domprediger und Professor Matthäus Vogel, der ausführlich gegen Joachim Mörlin polemisiert (Dok. 17). Über Königsberg hinaus gab es nur zwei von Johannes Brenz beeinflusste württembergische Gutachten, die vermittelnd ausgerichtet waren und von Herzog Albrecht als zustimmend gedeutet wurden (14).

Die lutherische Opposition gegen Osiander wird von hochkarätigen Theologen wie Joachim Mörlin (Königsberg, Domprediger u. Professor), Martin Chemnitz (Königsberg, Hofbibliothekar), Matthias Flacius (Magdeburg), Melanchthon (Wittenberg) und Johannes Brenz (Württemberg, Stuttgart) angeführt. Der schreibfreudige Flacius ist mit vier Veröffentlichungen vertreten (Dok. 8, 12, 14 und 16). Seine Verlegung des Bekenntnisses Osiandri von der Rechtfertigung (232–420, lat./ dt.) ist eine der ersten gründlichen Auseinandersetzungen mit Osianders Bekenntnis von 1551, mit einer zustimmenden Subscriptio seines Magdeburger Kollegen Nikolaus Gallus (411–418) und einem zusammenfassenden Appendix versehen (418–420).

Aus der Feder von Joachim Mörlin stammt die umfangreichste Entgegnung des Sammelbandes Controversia et Confessio 7, zudem die erste gedruckte und zugleich in hoher Auflage veröffentlichte Reaktion der Königsberger Kollegen auf Andreas Osiander, Von der Rechtfertigung des Glaubens. Gründlicher, wahrhaftiger Bericht aus Gottes Wort […], „Wider die newe verfürische vnd Antichristische Lehr. Andreae Osiandri […]“ (Dok. 11, Zit. S. 513, Titelbl.) Sie wurde „vermutlich nicht in nennenswertem Umfang“ (520) von dem Königsberger Theologieprofessor Georg von Venediger und vom Domprediger und a.o. Professor Petrus Hegemon unterstützt.

Melanchthon beanstandet in seiner Antwort auf Osianders Schrift über die Rechtfertigung, dass dessen Gerechtigkeitsbegriff ohne Verweis auf die Sündenvergebung auskommt (Dok. 7). Mit vielen Schriftbelegen und einem dokumentierten Lehrgespräch mit Luther (226–230) belegt er die reformatorische Soteriologie, der auch Johannes Bugenhagen und Johannes Forster in einer persönlichen Erklärung zustimmen (224–226). – Zu den dreizehn Autoren der achtzehn in C&C 7 edierten Schriften gehören der immer wieder vertriebene Erasmus Alber (Dok. 6 Widder das Lesterbuch des hochfliehenden Osiandri / darinnen er das Gerechte Blut vnsers Herrn Jesu Christi verwirfft als vntüchtig zu vnser Gerechtigkeit etc., 1552), der Nürnberger Gymnasialprofessor und -Rektor Michael Roting (Dok. 3, Testimonium contra falsam Osiandi sententiam, 1551) und zwei scharfe anonyme Schmähschriften unter dem Decknamen „Pasquillus“, die vielleicht ebenfalls von einem Nürnberger Autor stammen (Dok. 9 und 10).

Der Osiandrische Streit endet erst mit der Einführung des Corpus Doctrinae Prutenicum 1567 (auch: Repetitio corporis doctrinae ecclesiasticae), herausgegeben von Martin Chemnitz und Joachim Mörlin, und dann mit der Formula Concordiae 1577 und dem Konkordienbuch von 1580 (ediert: BSELK).

Wer noch mit der alten Ausgabe der Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche von 1930 (zuletzt in 13. Auflage 2010 nachgedruckt) gearbeitet hat, der weiß, dass der Studierende nach der Lektüre des Textes und der Anmerkungen zur Entstehung des Konkordienbuchs nur zu oft mit offenen Fragen alleingelassen wurde. Ein vertieftes Verständnis des Prozesses, der zur Endform der konfessionellen Textcorpora geführt hat, war nicht möglich. Es ist das Verdienst von Irene Dingel und ihrer zahlreichen Mitarbeiter, dass sie mit den beiden Ergänzungsbänden Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Quellen und Materialien, Bd. 1: Von den altkirchlichen Symbolen bis zu den Katechismen Martin Luthers; Quellen und Materialien, Bd. 2: Die Konkordienformel und mit den zehn Bänden der Reihe Controversia et Confessio die Quellen der lutherischen Bekenntnisbildung für Studierende und Forschende in gleicher Weise gut zugänglich gemacht und in mustergültiger Weise ediert haben. Der kirchenpolitische und theologische Streit in der nachreformatorischen Epoche wird mit den edierten Quellen zwar nicht erschöpfend, aber doch in seiner Breite verständlich gemacht. Vielleicht ist Controversia et Confessio die letzte „große“ Ausgabe theologischer Quellen des 16. Jahrhunderts, die in gedruckter (und zugleich in digitaler) Form erscheint? Der wissenschaftlich aufgearbeitete Briefwechsel des Matthias Flacius soll anscheinend nur noch in digitaler Form publiziert werden (https://www.adwmainz.de/projekte/flacius-briefwechsel-digital/beschreibung.html  Stand: 20.9.2024).


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Schriesheim