Historische Theologie

Dagmar Konrad: Missionskinder

Dagmar Konrad: Missionskinder. Migration und Trennung in Missionarsfamilien der Basler Mission des 19. Jahrhunderts, Münster: Waxmann, 2023, Pb., 368 S., € 39,90, ISBN 978-3-8309-4698-4


Dagmar Konrad hat 2001 ihre weithin bekannte Dissertation über pietistische Missionsbräute der Basler Mission im 19. Jahrhundert veröffentlicht. Die Monographie traf auf großes Interesse, so dass im Jahr 2013 eine vierte, bearbeitete Auflage erscheinen konnte. Hat die Autorin in ihrer Hochschulschrift den Weg der Frauen von der europäischen Heimat in die neue überseeische Heimat nachgezeichnet, folgt sie in der vorliegenden Studie dem Weg der Missionskinder in umgekehrter Richtung: aus der Ferne in die Heimat ihrer Eltern (5).

Die Familie des Missionars ist eher ein Nebenthema – wenn überhaupt – der klassischen Missionsgeschichtsschreibung. Traditionelle Missionsgeschichte beschäftigt sich mit der Ausbreitung des Christentums seit seinen Anfängen, mit Völkern, Ländern, Missionsmethoden und Hindernissen, Bekehrtenzahlen und entstandenen einheimischen Kirchen als Missionsziel. Missionarsfamilien sind dagegen in der älteren Literatur Gegenstand erbaulicher oder familiengeschichtlicher Darstellungen.

Die Kinder von Missionsfamilien sind ein wichtiges, aber bisher nur wenig wissenschaftlich erforschtes Thema. In den letzten Jahren erschienen zwei Veröffentlichungen, die sich mit dem Thema beschäftigen: Hans-Beat Motel: Mama, mein Herz geht kaputt! Das Schicksal der Herrnhuter Missionskinder (Herrnhut: Comenius-Buchhandlung, 2013, 2. Aufl. 2021, 184 S., € 14,90, ISBN 978-3-9814838-4-0) und Annemarie Töpperwien: Heimgeschickt. Ein Bericht über Kinder von Missionaren der Rheinischen Mission (Mission und Gegenwart, Bd. 1, Köln: Verlag Rüdiger Köppe, 2008, Pb., 144 S., € 24,80, ISBN-13 978-3-89645-751-6). Auch heute noch verlassen Missionare aus verschiedenen Ländern und von verschiedenen Kontinenten ihre Heimat für einen transkulturellen Dienst in anderen Regionen der Welt. Das Stichwort Third Culture Kids hat sich zu einem eigenen Thema entwickelt, das interkulturelle Erfahrungen und Probleme von Missionskindern und Expat-Kindern zusammenschließt (vgl. Konrad, 314, 421, 340–344). David Pollock hat gemeinsam mit Ruth Van Reeken und Georg Pflüger im Buch Third Culture Kids. Aufwachsen in mehreren Kulturen (Marburg: Francke-Buch, 2003, Pb., 400 S., € 14,95, ISBN 978-3-86122-632-1) das Thema vor über zwanzig Jahren auch in Deutschland bekannt gemacht (engl. EA 1999).

Dagmar Konrad beschäftigt sich mit dem Thema „Missionskinder“ in historischer Perspektive. Ihre Untersuchung verleiht der gegenwärtigen Diskussion geschichtlichen Tiefgang. Viele Fragestellungen sind nicht erst in den letzten Jahrzehnten entstanden. „Migration und Trennung“ ist der besondere Untersuchungsgegenstand von Konrad: „Im Zentrum des Interesses dieser Studie steht das Missionspaar mit seinen Kindern, die nach Europa gesandt werden müssen, also getrennte Familien“ (Einleitung, 12).

Sie teilt ihre Darstellung in drei Hauptthemen, die der Chronologie der Abläufe folgen (21): „I. im Missionsfeld“ (29–108), „II. Abschied und Trennung“ (109–160), „III. Neues Leben in Europa“ (161–340). In der Einleitung stellt die Verfasserin den Zusammenhang ihres Themas mit anderen Forschungskontexten dar (11–18), außerdem die ausgewerteten Quellen, Methoden, den Aufbau der Arbeit (18–24), und wie es dazu kam, dass die Basler Mission nach der Geburt der ersten Missionskinder 1851 im Jahr 1859 begann, ein Knaben- und ein Mädchenhaus zu errichten (24–28).

Im ersten Teil stellt Konrad den Kreis der Themen zusammen, die sich mit dem Missionspaar, das Familie wird, beschäftigen (29–108). Das Missionspaar hat auf dem Missionsfeld geheiratet; bei Schwangerschaft und Geburt fehlt das begleitende Netzwerk, das der werdenden Mutter in der Heimat eigentlich geholfen hätte (36). Die Missionarsfamilie soll Vorbild des gelebten Christentums in einer nicht-christlichen Umwelt sein (29). Missionskinder schlagen interkulturelle Brücken zum Hauspersonal, Kindermädchen und Einheimischen (40, 43). Im Gegensatz zur Lebensweise der Kolonialbeamten geht die Missionsfamilie nicht auf Distanz zu den Einheimischen und ihren Kindern (54–56, 58).

Stationen und Ereignisse im Leben des Kindes behandelt Konrad unter den Themen „,Das Zörnle kriegen‘ – Das böse Kind“, „,Ein Küssle geben‘– Das liebe Kind“ und weiter über das kranke, das sterbende / tote und das fromme Kind (62–89). Ausführlich wird der Kontakt zwischen den Kulturen am Beispiel des Kindermädchens behandelt (89–108).

Abschied und Trennung der Missionseltern von ihren Kindern ist das zweite große Thema der Untersuchung (109–160). Diese Übergangssituation wird als eine Art Glaubensprüfung verstanden, sie stürzt in Abwägungen zwischen Glaube und Vernunft, in Zweifel, Nöte und Ängste (110–114). Verschiedene Phasen folgen aufeinander, wobei die wochen- und monatelange Seereise zur eindrücklichen Metapher für die Lebensreise wird (131). Als „Trostkind“ wird das jüngste Kind der Missionarsfamilie bezeichnet, das den Eltern im Missionsland bleibt, während die Geschwister zur Ausbildung in der fremden europäischen Heimat weilen (134, 146–148). Zu den „pietistischen Abschiedsritualen“ gehören Beten und Bibellesen, Psalmen sprechen, Herzen [Umarmen, Liebkosen] und Küssen, Winken und Weinen (159).

Die Hälfte des Buchs nimmt das neue Leben der Missionskinder in Europa in den Blick (161–340). Der Briefwechsel dokumentiert oft das ganze Leben der Missionsfamilie wie ein Tagebuch (161). Hilfsvereine, engagierte Pfarrfamilien, Adoptionsinteressierte, alleinstehende Frauen und besonders auch Frauen aus großbürgerlichen Basler Familien engagieren sich für das Wohl der Kinder (173–186).

Hermann Hesse, der selber einer Missionsfamilie entstammt, schildert prägnant das Leben im christlichen Umfeld des Basler Missionskinderhauses (187). Das Mädchenhaus wurde von einer Vorsteherin geleitet, das Knabenhaus von einem Hauselternehepaar. Der interkulturelle Wissens- und Erfahrungsvorsprung der größeren Missionskinder wurde unter dem Thema vermeintlicher Arroganz oft behandelt (193). Die Erziehung unterschied sich in ihrer Strenge nicht von der damaligen Pädagogik (228). Auszüge aus wöchentlichen Berichten und Monatsberichten der Vorsteherin Scholz (200–212) schildern die christliche Gemeinschaft. Besonders spannend ist der Abschnitt über Fotografien, die Nähe zwischen Eltern und Kindern herstellen sollten, aber Fremdheit in der tatsächlichen Begegnung nicht verhindern konnten (244–255). Oft wurden auf den Aufnahmen Familien- und Geschlechterstereotypen inszeniert (251).

Eine wichtige Funktion im Leben der Kinder, die im Missionskinderhaus und nicht bei Verwandten aufwuchsen, hatte die Konfirmation (263). Mit der Konfirmation wurden Kindheit und Erwachsensein voneinander getrennt. Für die Jungen, die das Missionshaus verließen, hieß das, eine mehrjährige Lehre anzutreten. Mädchen hatten zum Teil sehr bewegte Lebensläufe mit vielen Veränderungen der Lebensorte- und aufgaben. Konrad schildert dies eindrücklich an den drei Fallbeispielen der Missionskinder Emilie Hasenwandel, Gustav Beierbach und Rosine (Rösle) Widmann (274–326).

In abschließenden Überlegungen zum Thema Heimat, Rückkehr und Entfremdung (326–344) geht die Verfasserin auf Parallelen zur heutigen Diskussion über Third Culture Kids ein (siehe oben). Es gibt durchaus Entsprechungen zwischen der Situation von Missionsehepaaren und den Menschen, die wir heute als „Arbeitsmigranten“ bezeichnen.

Dagmar Konrad hat mit ihrer Monografie eine bedeutende Quellenstudie vorgelegt, die auch durch umfangreiche Kenntnis der Sekundärliteratur verschiedener Forschungsbereiche imponiert. Die Lektüre erschließt nicht nur familien- und missionsgeschichtlich Neuland, sondern ist in vielen Teilen sehr bewegend zu lesen und geht wie ein Roman ans Herz des Lesenden. Zugleich ist das Werk auch ein Stück Basler Lokalgeschichte, die das christlich-soziale Engagement örtlicher Eliten – aus denen sich auch das Missionskomitee rekrutierte – gebührend beleuchtet. Was an einigen Stellen als „pietistisch“ eingeordnet wird, ist allerdings manchmal eher evangelisches oder christliches, vielleicht sogar „weltlich-“ zeitbedingtes Allgemeingut, nur dass lebenspraktische Maximen und Handlungsweisen in pietistischen Kreisen gewohnheitsgemäß christlich-biblisch hergeleitet wurden. Die 48 Abbildungen stellen eine gute Ergänzung zum Text dar. Weitere kann man online auf der Seite bmarchives.org finden. Konrads wichtige Studie fordert geradezu weitere Untersuchungen zur Frömmigkeit und Herkunft der Basler Missionarsfamilien.


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Schriesheim