Historische Theologie

Maibritt Gustrau: Orientalen oder Christen?

Maibritt Gustrau: Orientalen oder Christen? Orientalisches Christentum in Reiseberichten deutscher Theologen, Kirche – Konfession – Religion 66, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress, 2016, geb., 487 S., € 70,–, ISBN 978-3-8471-0540-4

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Jerusalem und die heiligen Stätten des Christentums sind für viele Christen noch heute Reiseziel oder zumindest ein Sehnsuchtsort. Das galt auch für Christen im Europa des 19. Jahrhunderts. Diese konnten freilich nur in den wenigsten Fällen selbst ins Heilige Land reisen, sodass sie auf die Berichte von Orient-Reisenden angewiesen waren. Hier setzt die Arbeit der evangelischen Theologin und Mannheimer Pfarrerin Maibritt Gustrau an, mit der sie 2015 an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Göttingen promoviert wurde. Gustrau untersucht 19 Reiseberichte von Reisen nicht nur nach Jerusalem, sondern in und durch den syro-palästinischen Raum, aus der Feder deutscher protestantischer Theologen, die nach der Reise ihre Erfahrungen in den Jahren 1847 bis 1913 für ein breiteres Lesepublikum veröffentlichten. Dabei fragt sie spezifisch nach dem Orientbild und der Wahrnehmung der orientalischen Christen in diesen Reiseberichten und ordnet deren kollektive sowie individuelle Sichtweise in die theologischen, politischen und auch rassentheoretischen Diskurse des 19. Jahrhunderts ein. Untersucht werden also „Wahrnehmungen und Einschätzungen des orientalischen Christentums, die deutsche evangelische Theologen nach ihren Orientreisen in Form eines Reiseberichts publiziert haben“ (15), womit die Verfasserin einem bisher vernachlässigten Aspekt in der Orientalismus-Debatte und den postkolonialen Studien ihre Aufmerksamkeit widmet.

Dazu stellt Gustrau einleitend Fragestellung, Methodik, Forschungsstand und den Aufbau der Arbeit vor (I, 15–26) und führt breit in die Entwicklung und Geschichte der orientalischen Kirchen im Osmanischen Reich und in die Orientpolitik im Deutschen Kaiserreich ein (II, 27–108). Dem (kirchen-)historischen Kenner mag diese Einleitung zu ausführlich sein, doch weist Gustrau zu Recht darauf hin, dass die Untersuchung des Orientbildes auch „außerhalb von theologischen Fachkreisen auf Interesse stoßen dürfte“ (26), was in der Tat eine breitere Hinführung sinnvoll erscheinen lässt.

Das „Herzstück“ (26) der Arbeit bilden aber die beiden folgenden Kapitel, in denen zunächst die kollektive Wahrnehmung des Orients und der orientalischen Christen erhoben wird als „Spiegel religiöser, theologischer, kultureller und politischer Imagination und ihre Brechung an der erlebten Realität“ (109). Gustrau analysiert in Zusammenschau alle 19 Reiseberichte (III, 109–181). Unter den Aspekten „Erblicktes“, „Gefühltes“ und „Erklärtes“ wird die Beschreibung des Gesehenen, z. B. bei einem Besuch in der Jerusalemer Grabeskirche, getrennt von den Emotionen, die das Gesehene bei den berichtenden Theologen auslöste, z. B. die Verachtung angesichts der konfessionellen Streitigkeiten in der Grabeskirche. Beides kulminiert in den Erklärungsversuchen der Autoren der Reiseberichte, die kollektiv die orientalischen Kirchen als defizitär wahrnahmen im Vergleich zur eigenen protestantischen Konfession und deutschen Kultur. So kommt Gustrau überzeugend zur Schlussfolgerung: „Insgesamt zeigte die Textanalyse der Reiseberichte, dass eine Dichotomie zwischen Westen und Osten zu den Grundbestandteilen der kulturellen und theologischen Identität der Verfasser gehörte. Dabei stand der Westen grundsätzlich für Überlegenheit, Fortschritt und Ordnung, während der Osten Degeneration, Rückständigkeit und Verwahrlosung repräsentierte. Analog wurde eine theologische Dichotomie entworfen: Während in Deutschland durch die Reformation das Evangelium in seiner reinsten Form bewahrt wurde, war es im Orient durch Streit und theologische Spitzfindigkeiten korrumpiert und deshalb vom Islam besiegt worden“ (431). Diese Dichotomie findet sich in allen untersuchten Reiseberichten und ist damit ein Teil der kollektiven Identität im (vor-)wilhelminischen Deutschland. Innerhalb der kollektiven Wahrnehmung bieten die einzelnen Reiseberichte jedoch unterschiedliche Perspektiven auf den Orient und seine Christen. Im vierten Kapitel (IV, 183–430), dem umfangreichsten und für den an der Erweckungsgeschichte Interessierten vielleicht spannendsten Teil der Studie, stellt Gustrau die Autoren biographisch vor und analysiert vor dem biographischen Hintergrund die Schwerpunkte und Besonderheiten in ihrer Wahrnehmung des Orients und der orientalischen Kirchen. Dabei bilden die Reiseberichte der acht Theologen, die aus der Erweckungsbewegung kommen oder ihr nahestehen, eine eigene Gruppe (186–278) neben Reiseberichten von protestantischen Theologen, die die Orientreise Kaiser Wilhelms II. im Jahr 1898 begleiteten (278–316), oder deren Reisebücher zugleich ein politisches Programm verfolgten, wie z. B. bei Friedrich Naumann oder Paul Rohrbach (317–430). Für die Autoren aus der Erweckungsbewegung stellt Gustrau fest, dass diese durchweg auf politische Stellungnahmen und theologische Polemiken verzichteten. Ein Beispiel ist der Reisebericht Durch’s heilige Land (1878–1890 in vier Auflagen erschienen) des Theologen Conrad von Orelli, Schüler von Frank Delitzsch und seit 1873 Professor für Altes Testament in Basel. Sein Reisebericht zeigt einerseits eine – erweckungstypische – Verehrung der biblischen Orte, andererseits aber Voreingenommenheit und „Standesdünkel“ (232) gegenüber den orientalischen Christen, wenn er resümiert: „Man muß Tage oder Wochen lang unter den Heiden oder Muhammedanern gewandert sein, um es recht zu empfinden, was uns Christen trotz aller Verschiedenheit der Kirchen denn doch verbindet“ (233). Klingen diese Worte auch kritisch, so zeigt sich für Gustrau im Vergleich der Reiseberichte: „Verunglimpfungen, extreme Herabwürdigungen und Polemiken liegen ausschließlich bei liberalen Theologen vor (v. Soden, Naumann, Rohrbach). Ähnliches gilt für die Rezeption der Rassentheorien“ (432).

Gustraus Studie zeigt aber auch, dass bei aller Verschiedenheit die orientalische Christenheit nicht im Zentrum des Interesses der schreibenden Theologen stand. Die Intention der Autoren der untersuchten Berichte war es, so die knappe Zusammenfassung der Ergebnisse (V, 431–437), „nicht nur die Heiligen Stätten zu veranschaulichen, sondern auch die Leser ihrer evangelischen Identität zu vergewissern“ (433). Das insgesamt eher geringe Interesse an den orientalischen Christen führte daher zu einer inhaltlich oft wenig aussagekräftigen und kaum über Topoi hinausgehenden Darstellung der orientalischen Kirchen.

Ein Abkürzungsverzeichnis, ein ausführliches Literaturverzeichnis und sorgfältig gestaltete Personen-, Orts- und Sachregister (439–487) beschließen die Arbeit, die einen wichtigen und bisher vernachlässigten Aspekt des Ost-West-Verhältnisses von Kirche und Politik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhellt und dies in gründlicher Analyse der Quellen tut. Mag man gelegentlich bei der Lektüre bedauern, dass einzelne Autoren und ihr Werk länger und tiefer dargestellt werden als andere (was ausdrücklich auch der unterschiedlichen Quellenlage geschuldet ist), so bietet die Arbeit grundlegende Erkenntnisse zur Wahrnehmung des orientalischen Christentums durch protestantische Theologen. Speziell für die Erweckungsforschung bietet die Arbeit teils vertiefte, teils erstmals erarbeitete Informationen über diese Publikationen von Erweckungstheologen, wie z. B. Friedrich Adolph Strauß, Conrad von Orelli, Carl Ninck oder Ludwig Tiesmeyer, und ergänzt damit bisherige Studien zum Welt- und Geschichtsbild der Erweckten.

 

Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen

 

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