Historische Theologie

Mark J. Boone: Augustine’s Preaching and the Healing of Desire in the Enarrationes in Psalmos

Mark J. Boone: Augustine’s Preaching and the Healing of Desire in the Enarrationes in Psalmos, Lanham: Lexington Books, 2023, geb., ix+307 S., $ 120,–, ISBN 978-1-7936-1202-1, $ 45,–, E-book 978-1-7936-1203-8


Augustin war oft der erste. Auch die erste vollständige christliche Psalmenauslegung stammt aus seiner Feder. Seine umfangreichen Enarrationes in Psalmos (en. Ps.) sind von immenser Bedeutung sowohl für die Auslegungsgeschichte des Psalters als auch für Augustins Denken. Einen Einblick in dieses Werk bietet Mark J. Boones Studie Augustines Preaching and the Healing of Desire in the Enarrationes in Psalmos. Der Verfasser erklärt zu Beginn sein Vorhaben und ordnet es in die Augustinforschung ein. Er beschäftigt sich mit den Psalmen, weil sie für Augustin so formativ waren; bereits ein Blick in die Confessiones zeigt, wie durchtränkt seine Sprache von den Psalmen ist. Die Predigten als Untersuchungsgegenstand bieten eine interessante Fallstudie für Augustins Hermeneutik. Zudem wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Augustin Bischof, also Prediger, war; diese Einsicht wird verstärkt seit dem Fund neuer Predigten Augustins Ende des 20. Jahrhunderts in der Forschung aufgenommen. Statt einem Theologen im Elfenbeinturm begegnet man in en. Ps. einem Prediger, der in intensivem Austausch mit seiner Gemeinde steht. Sogar einen Einblick in Augustins homiletische Poesie bekommt der Leser in einer Passage über Joh 8: „[T]he wounded woman remained with the doctor; great misery [magna miseria] remained with great mercy [magna misericordia]“ (79 zu en. Ps. 50,8).

Das Thema Verlangen (desire) hat Boone gewählt, weil er darin einen Kern augustinischer Theologie sieht. Bereits 2016 und 2020 hat er zu diesem Thema veröffentlicht und ordnet mit seinen Arbeiten Augustin in den Diskurs zu Funktion und Praxis antiker Philosophie ein. Von dem Grundbegriff Verlangen aus entwickelt Augustin eine ineinandergreifende Theorie über Liebe, Güte und Glück: „All desire is love, and desire seeks to possess goodness. That goodness, when possessed, yields delight“ (98). Boone verfolgt diese Motive in en. Ps. in vier thematischen Kapiteln, wobei diese häufig ineinander übergehen. Der Autor versteht diesen Aufbau als ein inhaltliches Fortschreiten, beim Lesen erweckt dies jedoch zuweilen den Eindruck der Redundanz. Insgesamt bespricht er 28 Psalmenauslegungen und bietet zusätzlich Kommentare über die Sammlung zu den Wallfahrtsliedern. Interessiert man sich eher für seine Einsichten zum Thema Verlangen, findet man die Ergebnisse jeweils am Kapitelanfang sowie in der Einleitung (1–36). Wer sich lieber mit einzelnen Enarrationes beschäftigen möchte, kann Boones Werk als Kommentar zu den ausgewählten Psalmenauslegungen lesen.

Im ersten Kapitel Christology and Desire (37–93) wird Augustins Verständnis von Verlangen in Bezug auf Christus untersucht. Christi Gerechtigkeit und Sündlosigkeit wird im Horizont von Verlangen verstanden: „Christ has rightly ordered loves“ (37). Die Sünde des Menschen bestehe darin, dass seine Liebe falsch geordnet sei, dass er stets niedere Dinge verlange. Die Verbundenheit mit Christus aber ordne das Verlangen neu und führe zur Liebe Gott und dem Nächsten gegenüber.

Hierbei spielt Augustins Grundmotiv des totus Christus eine wichtige Rolle, das im zweiten Kapitel Ecclesiology and Desire (95–155) weiter entfaltet wird. Es ist eine Stärke des Buches, dass es immer wieder die hermeneutische, christologische und ekklesiologische Bedeutung dieses Motivs an den Texten herausarbeitet. Ausgehend von Apg 9,4 beschreibt Augustin eine innige Gemeinschaft zwischen Christus und seiner Gemeinde. Die Implikationen sind vielfältig, besonders bedeutsam für die Psalmenexegese ist der Gedanke, dass der totus Christus der Sprecher der Psalmen sei: manchmal spreche Christus als Haupt, manchmal als Leib. Ähnliche Gedanken finden sich in der Moderne bei Bonhoeffer und es scheint ein gesunder Gegenpol zu einem allzu individualistischen Verständnis der biblischen Texte, insbesondere der Psalmen, zu sein. Auch in seinen polemischen Auseinandersetzungen mit den Donatisten half Augustin der Gedanke des totus Christus. Die Gemeinde solle die Einheit lieben, jedem Schisma wehren und als Gemeinschaft in Abhängigkeit von ihrem Haupt richtig geordnete Liebe einüben und falsche Verlangen ablegen. Auf diesem Weg könne der individuelle Christ, insbesondere aber die Gemeinde zu Gott aufsteigen und darin wahres Glück finden.

Das dritte Kapitel Happiness, Well-Being, and Desire (157–216) beleuchtet Augustins christliche Interpretation der eudaimonia. „The world and all that is in it are unstable, but the love of God will lead us to a stable happiness in the enjoyment of God’s goodness“ (157). Das Genießen Gottes, so zentral in Augustins Denken, hat einen breiten Eingang in die christliche Tradition gefunden. En. Ps. bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für Erkundungen in diesem Thema, wobei besonders auffällig die wiederkehrenden Betonungen der Güte der Schöpfung sind. In Augustins Weltbild findet alles Geschaffene seinen Platz, alles darf genossen werden, doch stets in dankbarer Haltung gegenüber Gott als dem Geber.

Schließlich zeigt Boone im vierten Kapitel Eschatology and Desire (217–276), dass Augustins Theologie des Verlangens stets im Lichte der Eschatologie verstanden werden muss. Die Gemeinde sei noch ein corpus permixtum, falsche Liebe zeige sich noch auf individueller wie auf kollektiver Ebene. Endgültige Erfüllung des Verlangens, das durch Gebet mehr und mehr auf Gott hin ausgerichtet wird, sei erst im ewigen, jenseitigen Reich Gottes zu erwarten.

Boones Studie bietet einen wertvollen Einstieg in eines der bedeutendsten Werke Augustins und behandelt viele wesentliche Aspekte seiner Theologie. Ein Vorzug des Buches ist, dass es Augustin selbst zu Wort kommen lässt, ohne seine Auslegung zu werten. Die Exegese wirkt zuweilen abenteuerlich (so werden die Gebeine aus Ps 22,15 als die Jünger Jesu gedeutet, die sich bei seiner Kreuzigung zerstreuten), doch bietet Boone eine sinnvolle Apologie seiner Methode. Augustin erkenne durchaus den Wert der wörtlichen Bedeutung des Bibeltextes an, sei jedoch stets bemüht, den vollen Sinn der Schrift auszuschöpfen, und verwende dafür figurative Exegese. Innerhalb des Rahmens der Maxime, die Bibel mit der Bibel auszulegen, probiert der Bischof von Hippo gerne mögliche Interpretationen aus, um die Fülle des Wortes Gottes zu erfassen und überrascht dabei nicht selten mit originellen Gedanken. Wer sich darauf einlässt, findet in en. Ps., vermittelt über Boones Buch, zahlreiche Anregungen für das Lesen, Beten, Singen und Predigen der Psalmen.


Heindrikje Kuhs, Mühlacker, Doktorandin an der Universität Heidelberg